Wie man mit Alltagsbildern eine Utopie entlarvt

Hanau
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Zeitzeugen stellen eine wichtige Ergänzung des Politik- und Geschichtsunterrichts dar.



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Sie erzählen aus einer ganz persönlichen Sicht Geschichte(n) und verdeutlichen so die Notwendigkeit sich zu erinnern aus ihrer eigenen Lebenswelt. Stefan Prochnow, Leiter des gesellschaftswissenschaftlichen Fachbereichs, und Dr. André Griemert, Fachsprecher für das Fach Politik und Wirtschaft, führten mit diesen Hinweisen den Vortrag von Siegfried Wittenburg ein. Der in der DDR aufgewachsene Fotograf Wittenburg griff diesen Gedanken auf und zeigte an aktuellen Beispielen wie Pegida und der AfD, wie besorgniserregend heutzutage mit demokratischen Grundwerten umgegangen wird. „Ich musste fast 70 Jahre alt werden, um eine Hälfte meines Lebens in der Demokratie leben zu dürfen“, erklärte Wittenburg und zeigte damit eindrucksvoll die Bedeutung von Freiheit und Demokratie für sein Leben, für Deutschland und Europa, die er in Gesprächen mit Schülern vermitteln will.

In Kooperation mit der hessischen Landeszentrale für politische Bildung hält Wittenburg diese Zeitzeugenvorträge. Allerdings weniger, um die chronologischen Ereignisse zu dokumentieren, die zum Untergang der SED-Diktatur geführt haben, vielmehr will er Jugendlichen einen Eindruck vermitteln vom Leben in der Utopie des Arbeiter- und Bauernstaates, der seinen Bürgern das Paradies versprochen, aber stattdessen Mangel und Unterdrückung gebracht hat.

Ausgehend von der Biografie seines Vaters, von seinem eigenen Lebenslauf und natürlich mithilfe seiner Fotografien zeigte der Redner anschaulich und persönlich-subjektiv, dabei aber nie die objektive-faktische Geschichte außer Acht lassend, wie sehr Ideologie und Realität in der DDR auseinander klafften. Auf diese Weise zeigte er den Schülerinnen und Schülern, ohne noch viel erklären zu müssen, auf, dass das „Leben in einer Utopie“ nicht ansatzweise der Propaganda entsprochen hat.

Viele kleine, scheinbar harmlose Anekdoten werden in Wittenburgs Abarbeitung an dieser Utopie zu Belegen für die Unmenschlichkeit eines Systems, das für die Betroffenen bis heute nachwirkt. Wittenburg zeigt zum Beispiel die Buchstaben „A“ und „I“ und erzählt, dass diese beiden Buchstaben in den Klassenbüchern der Schulen eine entscheidende Rolle gespielt hätten: A stand für Arbeiter und I für Intelligenz. Plötzlich schwenkt Wittenburg aber um und erzählt, wie er seine Frau kennengelernt habe. Er zeigt das Bild einer hübschen jungen Dame und lässt es einen Augenblick wirken, bevor er beiläufig erwähnt, dies sei ihre reizende Schwester. Alles lacht, auch Wittenburg. Doch dann erzählt er weiter von diesem begabten, lebensfrohen Mädchen, das trotz bester Noten kein Abitur machen durfte, weil es aus dem falschen Elternhaus stammte, in dem Vater, Mutter und die große Schwester bereits studiert haben und daher eben nicht zur Arbeiterschicht gehörten. Wie sie mühsam an der Abendschule ihren Abschluss nachgeholt habe, nur um dann festzustellen, dass es für sie keinen Studienplatz gebe. Wie sie sich zur Flucht entschlossen habe, bereit, alles hinter sich zu lassen, das repressive System, aber auch ihre Familie, um am Ende ihrer beruflichen Wünsche beraubt in München einsam und verbittert zu leben.

Ohne wirklich Widerstand leisten zu wollen, eckte Wittenburg dennoch oft mit seinen Fotografien an, da sie das Leben in der DDR so zeigten, wie es tatsächlich war. Graue Plattenbauten, verfallende Industriebetriebe, aber auch lächelnde Brautpaare und glückliche Kinder. „Dafür, dass die Kinder glücklich waren, haben die Eltern gesorgt – nicht der Staat.“ Wittenburg hat sich das Fotografieren dabei selbst beigebracht. Er erklärte in seinem Vortrag auch wieso. Als er sich mit 25 Jahren an einer Hochschule einschreiben wollte, wurde ihm gesagt: „Eigentlich brauchen wir junge Leute, die wir noch formen können.“ Aber genau das wollte er eben nicht. Kein Wunder, dass er mit seinen ehrlichen Fotografien von den Behörden immer argwöhnisch beäugt wurde.

Insgesamt gelang es Siegfried Wittenburg eindrucksvoll, durch die gelungene Kombination von ganz privaten Erlebnissen und Erfahrungen, historischen Fakten und Zitaten sowie aktuellen Problem- und Fragestellungen, die Schüler zu packen und Ihnen die Bedeutung von Demokratie und Republik begreiflich zu machen. Jonas Toillié betonte beispielsweise, dass „die Bilder einen tiefgreifenden Eindruck zur DDR“ vermittelt hätten. Pia Wächter und Kai Nelles dagegen fanden es erstaunlich, „wie man als normaler Bürger, der nicht fliehen wollte oder Fluchtversuche unternahm, derart im System anecken konnte.“ Die Zuhörer gewinnen auf diese Weise einen realistischen Einblick in einen Alltag, der so ganz anders war, als von der Führung der DDR propagiert.

Foto: Siegfried Wittenburg an der Hohen Landesschule.


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