„Mittendrin, statt außen vor“: Eine Betroffene erzählt

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Sandra (Name geändert) hat gelernt, mit ihrer Erkrankung umzugehen. Sie möchte sie nicht verstecken, sondern erzählen. Davon wie es ist und sich anfühlt, psychisch krank zu sein.



Die heute 39-Jährige wuchs in Nordhessen auf, das Lernen fiel ihr leicht, sie las gern und spielte Orgel in der Kirche. Nach dem Abitur studierte sie Theologie mit dem Berufswunsch Pfarrerin zu werden. Das Studium begeisterte sie und auch das Vikariat. Nach ihrem Abschluss bekam sie eine Pfarrstelle. Bis dahin lief eigentlich alles nach Wunsch, sie hatte sich lange auf diesen Beruf vorbereitet, war gerüstet und stürzte sich in die Arbeit. Die ausgefüllt war mit dem anstrengenden Gemeindedienst, dem Dienst an den Menschen, die zu ihr kamen. Es war ein Vollzeitjob, es blieb kaum Zeit für persönliche Dinge. In ihrer Freizeit ging sie joggen, die Tage waren vollgepackt und die ersten Signale übersah sie. Vor Beginn der „Woche der Seelischen Gesundheit“ am kommenden Freitag (9.10.) gibt sie Einblicke in ihre Krankheitsgeschichte.

Sie war häufig erkältet, Magenprobleme kamen hinzu, Magenschleimhautentzündung. Dann ein ständiges Klingeln in den Ohren und doch machte sie weiter. Heute sagt sie, dass sie immer sehr leistungsorientiert sei, hohe Ansprüche an sich selbst habe. Sie verlor die Selbstkontrolle, schaffte nur noch das Nötigste und das mit großer Kraftanstrengung. Sie ging nicht mehr joggen, sie sagte Termine ab. Aber was noch schlimmer gewesen sei, sie bekam ihr privates eigenes Leben nicht mehr hin. Sie kaufte nicht mehr ein, sie zog sich zurück und spürte, wie ihr alles zu entgleiten drohte. Nach außen überspielte sie es.

Es war Ostern, sie war bei der Familie zu Hause und spielte auch da eine Rolle, eine, die von ihr erwartet wurde und die sie mit großer Kraftanstrengung erfüllte. Zurück in ihrer Gemeinde hielt sie die Predigt an Ostern und wusste da schon innerlich: „Ich kann nicht mehr.“

Immer schwieriger sei es gewesen, jeden Tag aufzustehen und zu funktionieren, die Erwartungen der anderen zu erfüllen. Sie versuchte sich das Leben zu nehmen und kam in die Klinik. Jetzt gab es kein Verstecken mehr, auch nicht vor den Eltern, Freunden und Bekannten, sie war krank und musste sich dazu bekennen. Wie jeder andere kranke Mensch auch wollte Sandra schnell gesunden und zurück ins Berufsleben. Sie begann langsam mit nur einer halben Stelle in einer anderen Gemeinde und ein paar Jahre ging auch alles gut. Sie versuchte achtsam zu sein und doch, fast unmerklich begannen die alten Mechanismen wieder zu wirken. Obwohl sie ihr bekannt waren, hatte sie doch nicht die Kraft, die Signale zu erkennen und zu reflektieren. Sie brauchte ihre gesamte Energie für den Alltag. Ein Rückfall war vorprogrammiert.

Erneut kamen Klinikaufenthalte auf sie zu, Therapien und Medikamente, die erst mal halfen am Leben zu bleiben. Aber es war ein Leben „außen vor“, nicht mittendrin. Langsam und in kleinen Schritten lernte sie, sich um sich selbst zu kümmern. Sie ist überzeugt davon, gesund zu werden und doch vernünftig genug, dabei sich nicht zu überfordern. Sie kann inzwischen akzeptieren, dass sie mit einer Krankheit leben muss, die viel Geduld erfordert, insbesondere mit sich selbst. Aber das ist natürlich nur die eine Seite, Geduld und Verständnis der Mitmenschen, der Gesellschaft ist dabei auch wichtig. Die Anerkennung der Erkrankung, ohne auszugrenzen.

Auch für ihre Familie war es schwierig. Es gab Zeiten, da brach Sandra den Kontakt zu ihren Eltern ab, die sich für ihre Tochter schämten. Inzwischen pflegen sie einen ganz normalen Umgang miteinander. Sandra selbst hat ihren Weg gefunden, hat gelernt mit ihrer Erkrankung umzugehen und sie weiß, wie sie sich selbst helfen kann. Werte, die einst ihr Leben bestimmten, haben sich verändert. Sie hat gelernt, sich selbst gut einzuschätzen und das zu erkennen, was man leisten kann und was eben nicht. Zur Zeit macht sie eine Ausbildung zur Genesungsbegleiterin. Aufgrund ihrer Krankheitsgeschichte, so erzählt sie, ist sie praktisch eine „Expertin aus Erfahrung“.

Vor zwei Jahren war sie an der Gründung des Vereins EX-IN Hessen in Marburg beteiligt, der es sich zum Ziel gesetzt hat, in der Öffentlichkeit darauf hinzuwirken, dass Menschen mit psychischer Erkrankung ihren Platz in der Gesellschaft finden, auch im Hinblick auf das Thema „vollwertige Arbeit“. Menschen, wie Sandra, mit einer psychischen Erkrankung lernen von der eigenen Geschichte, nehmen Abstand zu dieser Geschichte, ordnen und sortieren sie. Sie hören und bearbeiten auch die Erfahrung anderer. Aus dem Wissen über sich selbst und der eigenen Geschichte sowie der Geschichte der anderen entsteht ein „Wir-Wissen“. Dieses Wissen kann die bisherige Arbeit in der Psychiatrie und psychosozialen Versorgung psychisch Erkrankter erheblich verbessern.

Das Aktionsbündnis für seelische Gesundheit im Main-Kinzig-Kreis beteiligt sich bereits zum zweiten Mal an der bundesweit veranstalteten „Woche der Seelischen Gesundheit“ vom kommenden Freitag, 9. Oktober, bis Freitag, 16. Oktober. Zu den zentralen Fragen gehört, wie die Krankheiten ihr gesellschaftliches Tabu verlieren und die Integration psychisch erkrankter Menschen in die Gemeinschaft besser gelingen kann. Sandras Geschichte und ihre Bereitschaft, damit in die Öffentlichkeit zu gehen, trägt dazu bei, dass die Gesellschaft erkennt: Psychische Störungen sind therapierbar und gerade bei frühzeitiger Behandlung sind sie heilbare Erkrankungen, die jeden von uns, egal ob jung oder alt, betreffen können.

Aktionswoche beginnt mit Film und Ausstellung

Während der „Woche der Seelischen Gesundheit“ wird im Main-Kinzig-Forum in Gelnhausen, Barbarossastraße 24, die Ausstellung „Seelenbilder“ zu sehen sein. Besucherinnen und Besucher können sich die Kunstwerke von Menschen mit psychischer Erkrankung bereits ab Montag, 12. Oktober, zu den Öffnungszeiten der Kreisverwaltung anschauen. Eine offizielle Eröffnung nimmt Gesundheitsdezernent Matthias Zach am Dienstag, 13. Oktober, um 13.30 Uhr vor. „Mit der 'Woche der Seelischen Gesundheit' geben wir Krankheiten eine öffentliche Aufmerksamkeit, die mit einem Tabu belegt sind", erklärt Gesundheitsdezernent Matthias Zach. "Nicht drüber zu reden hilft aber den Betroffenen nicht – im Gegenteil. Je früher und offener Menschen über ihre psychischen Erkrankungen sprechen können, desto besser. Dazu leisten wir einen kleinen Beitrag.“ Den Auftakt der Aktionswoche bildet eine öffentliche Vorführung des Films „Vincet will meer“ am kommenden Freitag, 9. Oktober, um 9.45 Uhr im Kino Pali in Gelnhausen. Im Anschluss an den Film findet ein „Mittendrin-Gespräch“ mit einer Betroffenen sowie verschiedenen Experten statt. Veranstalter ist das Aktionsbündnis für seelische Gesundheit im Main-Kinzig-Kreis. Der Eintritt zu allen Angeboten ist kostenlos.


Ihnen ist etwas Interessantes aufgefallen im Main-Kinzig-Kreis? Schreiben Sie uns an info@vorsprung-online.de


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