Offener Brief: Dramatische Situation beim Kinderschutz in Hanau

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Mt einem offenen Brief wenden sich Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) und Bürgermeister Dr. Maximilian Bieri (SPD) an Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) und den Hessischen Sozialminister Kai Klose (Grüne) und beschreiben die dramatische Situation, in der sich die Stadt Hanau in Sachen Kinderschutz befindet und bitten eindringlich um Hilfe.



"Sehr geehrte Frau Bundesministerin Paus, sehr geehrter Herr Staatsminister Klose, die Stadt Hanau ist zur Sicherstellung des Kinderschutzes geäß §§ Ba, 8b und 42 SGB VIII verpflichtet. Da wir dieser Verpflichtung jedoch kaum noch gerecht werden können, sehen wir uns verpflichtet, Sie über die aktuell nicht nur uns betreffende Notlage zu informieren und Sie eindringlich zu bitten, sofort wirksame Maßnahmen zu ergreifen.

Mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften und Mitteln versuchen wir, unserem gesetzlichen Auftrag gerecht zu werden, um Kindern und Jugendlichen die Hilfen und den Schutz zu gewähren, die sie benötigen. Dies wird uns jedoch immer mehr unmöglich gemacht, indem wir an grundsätzlich vorherrschenden Problemlagen scheitern. Konkret heißt das: Wir finden für immer mehr Kinder und Jugendliche in Not keine kurz- oder längerfristigen Unterbringungsmöglichkeiten mehr. lnobhutnahmestellen sind buchstäblich bis unters Dach belegt, können eigentlich vorhandene Betten mangels Personal nicht belegen oder müssen gar schließen. Selbiges gilt für Heimeinrichtungen, die Kindern und Jugendlichen ein dauerhaftes Zuhause bieten sollen.

Wir möchten Ihnen die überaus prekäre Lage am Beispiel eines aktuellen Falls näherbringen, wobei natürlich hinter jedem 'Fall' ein anderes Schicksal und die Zukunftsperspektive eines jungen Menschen und seiner Familie steht. Für den 16-jährigen 'Leon' suchen wir bereits seit Dezember 2022 nach einem vollstationären Wohnplatz. Leon lebt mit einer seelischen und geistigen Behinderung (Autismus-Spektrum-Störung und lntelligenzminderung) und ist das ältere der zwei Kinder einer alleinerziehenden Mutter. Im Zusammenhang mit seiner Beeinträchtigung wird Leon in Anspannungssituationen schnell aggressiv und hat bereits seine Mutter, seinen kleinen Bruder und fremde Personen körperlich angegriffen. Mehrere (kurzweilige) Aufenthalte in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie mit sich anschließender medikamentöser Behandlung brachten keine Verbesserung.

Leons Mutter ist kürzlich nach erneuter Eskalation ans Ende ihrer Kräfte geraten und kann die Betreuung ihres Sohnes, selbst unter Zuhilfenahme eines ambulanten Helfers, nicht mehr übernehmen. Unsere Suche nach einer Heimunterbringung verläuft seit mehr als einem halben Jahr und nach etwa 70 angefragten Einrichtungen weiterhin erfolglos. Vor wenigen Tagen mussten wir Leon in Obhut nehmen, nachdem die zuständige Kinder- und Jugendpsychiatrie ihn entließ und eine Rückführung in den mütterlichen Haushalt aufgrund völliger Erschöpfung der Mutter unmöglich war. Bis zu sechs pädagogische Fachkräfte unseres Jugendamtes waren ganze drei Tage lang damit beschäftigt, lnobhutnahmestellen und andere Einrichtungen abzutelefonieren, um eine Unterbringungsmöglichkeit für Leon zu finden. Die Suche erfolgte deutschlandweit Im Ergebnis war am Tag seiner Entlassung aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie keine einzige Einrichtung gefunden, welche Leon aufgenommen hätte.

Unser Jugendamt versteht sich als die staatliche Instanz, die für den Schutz unserer Kinder und Jugendlichen sorgt, wenn kein anderer es mehr kann. Allerdings sind auch wir am Ende unserer Möglichkeiten, wenn das sogenannte 'System', zu welchem wir uns zweifelsohne zählen, versagt. Und es versagt ganz offensichtlich und nachweisbar für den 16-jährigen Leon. Es versagt aber auch in anderen Fällen, in denen weit mehr als 1 00 Einrichtungen angefragt wurden, und erst nach zäher Wartezeit von teils 6-12 Monaten eine Aufnahme stattfinden kann.

Leon ist aktuell in einem Hotel untergebracht und wird von einem Sicherheitsdienst 24/7 betreut. Mehrmals täglich erkundigen sich sozialpädagogische Fachkräfte des Jugendamtes im persönlichen Kontakt nach dem Wohlergehen Leons. Die Beauftragung eines Sicherheitsdienstes erfolgte, da dies die einzige Möglichkeit war, umgehend eine 24/7-Betreuung des Jungen zu gewährleisten. Dieses Vorgehen entspricht in keiner Weise unserem fachlichen Standard und erfüllt uns mit größter Unzufriedenheit.

Wir bitten Sie, nicht nur im Namen Leons, sondern im Namen aller betroffenen jungen Menschen: Werden Sie tätig! Unterstützen Sie uns dabei, unseren gesetzlichen Auftrag sicherstellen zu können. Schaffen Sie die Bedingungen, um ausreichend viele Angebote in Hessen und in der Bundesrepublik zu schaffen. Die momentane Situation ist nicht nur aus pädagogischer Sicht untragbar.

Nicht nur die Organisation von Notlösungen auch die überaus aufwendige Suche nach Plätzen in lnobhutnahmestellen bindet Fachpersonal, das dringend für Bearbeitung laufender und neuer Erziehungshilfe und Kinderschutzmaßnahmen gebraucht wird. Das System wird an dieser Stelle in besonderer Weise 'verstopft', sodass die Handlungsfähigkeit des Jugendamts insgesamt in Mitleidenschaft gezogen wird."

Oberbürgermeister Claus Kaminsky
Bürgermeister Dr. Maximilian Bieri
Hanau

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