Freigericht: Über 400 Menschen demonstrieren gegen Hass und Hetze

Foto: Anton Hofmann

Somborn
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In Somborn fand auf dem Rathausplatz eine Demo unter dem Motto: „Freigericht steht auf für Demokratie und gegen Rechtsextremismus!“ mit circa 400 Teilnehmer*innen statt. Nachdem bereits in umliegenden Gemeinden im Main-Kinzig-Kreis die Menschen für ein demokratisches Gemeinwesen, gegen Rechtsextremismus sowie gegen Hass und Hetze zu Demonstrationen und Kundgebungen aufgerufen hatten oder noch aufrufen werden, haben die Freigerichter zu einer Kundgebung aufgerufen.

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Achim Kreis, der wöchentlich zu Mahnwachen gegen den Ukrainekrieg einlädt, organisierte die Veranstaltung, zu der auch alle Parteien und Wählergruppen in der Gemeindevertretung sowie die Kirchengemeinden und der Energiestammtisch aufgerufen haben und sie waren mit der Beteiligung sehr zufrieden. „Die größte Gefahr für die Demokratie ist derzeit sicher die AfD, die zumindest in Teilen gesichert rechtsextrem ist und deswegen auch vom Verfassungsschutz besonders beobachtet wird“, sagte Kreis. „Sie versucht, mit Desinformation, mit Lügen und mit Hass und Hetze die Menschen gegen unser demokratisches System und seine Institutionen aufzuwiegeln. Dass sie, sollte sie an die Macht kommen, die Demokratie von innen sehr schnell aushöhlen würde, daran kann kein Zweifel bestehen.“ Ebenso seien vor nicht allzu langer Zeit auch die Nationalsozialisten vorgegangen, und, einmal an den Schalthebeln der Macht, hatten sie die Demokratie innerhalb weniger Wochen komplett demontiert. „Dagegen rufen wir: Nie wieder ist jetzt! und treten dafür auch öffentlich ein“, erklärte Kreis weiter. „Ich bin froh, dass auch alle demokratischen Freigerichter Parteien zu dieser Kundgebung aufrufen, denn wir alle sind die Mitte der Gesellschaft. Und wir sind die Mehrheit, auch das sollen die Lautsprecher am rechten Rand sehen“, meinte Kreis.

Seine Ehefrau Anne Smola betonte in ihrer Einleitung, sie stehe hier als Frau, als Mutter und als Großmutter. „Als Frau habe ich eine gute Vorstellung davon, was Diskriminierung ist. Als Ehefrau und als Mutter weiß ich, wie groß die Kraft der Liebe ist. Als Großmutter schaue ich, voller Zärtlichkeit für mein Enkelkind, besorgt in die Zukunft unseres Landes. Und ich sehe die Verantwortung, die wir dafür haben.“ Alle seien gekommen, um eine politische Position zu beziehen gegen die schrecklichen rechten Ideologien der AfD, gegen Diskriminierung, gegen alle Formen von Radikalismus, die unsere Gesellschaft bedrohen. Smola weiter: „Ich stehe hier und weiß nicht, wo dieser Hass herkommt. Diese Wut in den einzelnen Menschen, die sie dazu bringt, sich rechtsradikalen Ideen zuzuwenden. Hassreden zu halten. Im Netz alles rauszuschreien. Ich weiß es nicht, warum. Auch diese Menschen lieben ihre Kinder, ihre Eltern, ihre Partner und Freunde. Ich weiß nicht, was die Gesellschaft so sehr spalten konnte in den letzten Jahren. Aber ich weiß ganz sicher, was wir dagegen halten können. Ich weiß, dass Güte und Freundlichkeit, Fairness, Toleranz und Respekt, gegenüber sich selbst und gegenüber Anderen, eine große gute Kraft haben. Deswegen liegen diese Werte unserer Staatsform zugrunde. Der Demokratie. Dazu bekennen wir uns, heute und hier, alle zusammen. Wir haben die Kraft! Wir sind viele! Wir stehen auf! Freigericht steht auf! Für Freiheit und Demokratie. Nie wieder ist jetzt.“

Nach dem Freigerichter Bürgermeister Dr. Albrecht Eitz (SPD) sprachen die Co-Vorsitzende der Integrationskommission Freigericht, Alice Stroh, der 96-jährige Zeitzeuge Emil Weigand, der 1. Vorsitzende und die 2 Vorsitzende von „Hand aufs Herz“ Gelnhausen, Alexander Schopbach und Julia Hott, Landrat Thorsten Stolz (SPD) und für die Katholische Pfarrgemeinde Klaus Schmitt sowie für die Evangelische Pfarrgemeinde, Pfarrer Markus Wagner-Breidenbach. Zum Abschluss spielten die beiden Geistlichen und sangen mit den Teilnehmenden ein Lied mit dem Titel: „Aufstehn“.

Bürgermeister Eitz appellierte eingangs mit einem Zitat von Ernst Reuter (Berliner Bürgermeister 1948) „Schaut auf diese Stadt!“ und freute sich auf den beindruckenden Ausblick auf die Teilnehmer*innen, „jung und alt, Frauen und Männer, Freigerichter und Nachbarn, verschiedene Konfessionsangehörige. Wir leben Vielfalt statt Einfalt, Mut-Macher statt Mies-Macher, alle Nationalitäten gemeinsam lehnen Rechtsextremismus ab!“ Eitz stellte fest, dass die Bürger*innen der Bundesrepublik für die freiheitlich demokratische Grundordnung dankbar seien und das Grundgesetz seit 75 Jahren Frieden und Freiheit gewährleistet. Mit den Worten: „Wir müssen wachsam und aufmerksam sein! Selbst die Arbeitgeberverbände warnen vor einem fremdenfeindlichen Klima und die Hochschulen und Forschungsinstitute wie Leibniz, Fraunhofer, Helmholz oder max-Blank sehen die Innovationsfähigkeit von Deutschland in Gefahr. Hass ist keine Haltung!“, dankte er dem Veranstalter Achim Kreis und allen, die zum Gelingen der Veranstaltung beigetragen haben.

Die Co-Vorsitzende der Integrationskommission Freigericht, Alice Stroh, äußerte sich sehr positiv über das gemeinsame Zeichen der Freigerichter gegen Rechtsextremismus. „Die Integrationskommission fördert ein Miteinander, das auf gegenseitiger Wertschätzung, Respekt und Anerkennung unserer Vielfalt basiert. Der Rechtsextremismus stellt eine Bedrohung für die Werte dar, die uns alle vereinen. Er versucht Gräben zu schaffen, wo Brücken gebaut werden sollten, Wir Freigerichter wählen einen anderen Weg, den Weg der Offenheit, der Solidarität und des gemeinsamen Wachstums. Unsere Stärke liegt in der Vielfalt. Die Arbeit der Integrationskommission zielt darauf, diesen Schatz zu pflegen, indem wir für jedes Gemeindemitglied Chancen auf Teilhabe und dein respektvolles Miteinander schaffen."

Der 96-jährige Zeitzeuge Emil Weigand erhielt ganz besondere Aufmerksamkeit bei den Veranstaltungsteilnehmer*innen. Zunächst erinnerte er daran, dass er 6 Jahre alt war, als Adolf Hitler im Januar 1933 an die Macht kam. Er dankte seiner Mutter, die eine tiefgläubige Frau war, dass sie sich weigerte ein „braunes Hemd“ für das Jungvolk zu kaufen, denn „dafür haben wir kein Geld“. Emil Weigand war der Einzige aus seinem Jahrgang in Somborn und seine Mutter ahnte, was da vorging und auf sie zukam. Die Politik der Nazis war vollkommen gegen ihr christliches Weltbild. Anschließend bekam Weigand mit, dass die Katholische Jugend und die DJK als Organisation mit christlichem Weltbild – kurz vor der neue DJK-Sportplatz eingeweiht werden sollte - verboten wurden. Als Beleg zitierte er eine Anzeige vom 5. Februar 1935 und aus dem Auflösungsschreiben der DJK Somborn vom 6.6.1935! Kurz danach wurden der Spielmannszug und die Flötengruppe verboten sowie das katholische Jugendheim von den Nazis geschlossen. 1944 wurde er in den Arbeitsdienst eingezogen, im Januar 1945 kurz vor Kriegsende zogen sie ihn noch zu Wehrmacht ein und dann kam er in amerikanische Gefangenschaft. Für seine Ausführungen: „Alle diese schlimmen Erfahrungen, die ich als junger Mann machen musste, haben mich zu einem überzeugten Demokraten und Europäer werden lassen. Ganz besonders die Freundschaft zu Frankreich ist ein sehr wichtiges Standbein für den Frieden in Europa und es gibt keine Alternative dazu!“, bekam er einen lange anhaltenden Beifall der Veranstaltungsteilnehmer*innen. Er legte besonderen Wert darauf, dass sein Geist noch fit sei (wenn mit 96 seine körperliche Kraft nachlässt) und richtete einen innigen Appell an die Zuhörer*innen: "Auch wenn es im Moment sicher sehr schwere Zeiten sind. Demokratie ist das Einzige, was uns hier in Europa Frieden und Wohlstand sichert. Aber genau diese Demokratie ist durch die AfD in Gefahr. Auch damals wurde Hitler demokratisch gewählt, aber dann wurde die Demokratie ganz schnell abgeschafft. Das konnten wir die vergangenen Jahre in Polen und Ungarn sehr gut beobachten. Deshalb so laut ich noch kann: 'Nie wieder ist jetzt!'"

Alex Schopbach und Julia Hott von "Hand aufs Herz Gelnhausen" berichteten von den Veranstaltungen in Gelnhausen und Wächtersbach. „Wir stehen hier heute partei- und konfessionsübergreifend, um den Rechtsextremen zu zeigen, dass ihr menschenverachtendes Treiben bei uns keine Chance hat. Unsere Gesellschaft steht zusammen. Wir sind mehr und wir bleiben mehr – heute, morgen, immer!“ Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs galt die Losung 'Nie wieder!' als festes Fundament unseres Miteinanders. Doch heute hat dieses Fundament tiefe Risse. Wir erinnern Euch an Björn Höckes faschistischen Angriff auf die Inklusion im vergangenen Jahr, als er behinderte und nichtbehinderte Schüler trennen wollte. Und nun vor wenigen Wochen dieses widerliche Deportations-Geheimtreffen. Der Konsens 'Nie wieder' steht heute massiv auf der Kippe und deshalb sind wir hier heute alle bereit, unsere Demokratie entschieden zu verteidigen. Wir alle wissen: Nie wieder ist jetzt! Seit Wochen gehen in Deutschland hunderttausende auf die Straßen, so heute auch in Freigericht. Breite zivilgesellschaftliche Bündnisse bilden sich allerorten – parteiübergreifend und entschlossen, die Rechtsextremen in ihre Schranken zu verweisen. Das ist eine neue Bewegung für Demokratie und ein jeder von uns hier ist ein Teil davon! Das ist eine ganz großartige Sache, denn mit unserer Demokratie verteidigen wir das kostbarste Gut für unsere Kinder und Enkelkinder: Ein Leben in Freiheit, ein Leben in einer weltoffenen, bunten und alle Menschen achtenden Welt, egal, welcher Herkunft sie sind."

Schopbach und Hott betonten bei allem Optimismus und aller Freude über diese neue Bewegung für Demokratie müsse klar sein: „Es wird ein harter und anstrengender Weg, unsere Demokratie erfolgreich zu verteidigen. Die AfD hat sich in nahezu allen Landtagen festgesetzt. Und obwohl immer mehr Landesverbände vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft werden, hat diese neue NSDAP noch immer hohen Zuspruch. Und sie versucht verstärkt, Aktivisten wie uns, aber auch Politiker durch Anzeigen einzuschüchtern. Lasst uns auch da zusammenstehen, uns gegenseitig den Rücken stärken und keinen Millimeter zurückweichen. Wir alle brauchen einen langen Atem, bei Kundgebungen wie heute, aber auch im Alltag, im Verein, im Freundeskreis, in unseren Familien. Die Saat der Rechtsextremen ist aufgegangen und um unsere Demokratie zu verteidigen, braucht es jetzt richtig viel Ausdauer. Deshalb appellieren wir an Euch: Schließt Euch Vereinen und Initiativen wie Hand aufs Herz e.V. an, die sich seit Jahren für unsere demokratische, bunte und weltoffene Gesellschaft engagieren – mit Kundgebungen, mit Bildungsangeboten und in breiten zivilgesellschaftlichen Bündnissen. Oder engagiert Euch in demokratischen Parteien, gestaltet dort Euer direktes Lebensumfeld mit. Und sorgt somit auch dafür, dass die ein und andere Partei endlich wieder genauer hinhört, wo die Menschen der Schuh wirklich drückt."

Abschließend stellten Alex Schopbach und Julia Hott fest: „Wir sind wie hundertausende andere in Deutschland zutiefst davon überzeugt, dass genau das der richtige Weg in dieser unserer Zeit ist. Vermeintliche Alternativen, die den Weg der Zerstörung infolge von Angst, Populismus, Egoismus, nationalterritorialer Abschottung, Hass und Hetze predigen, sind es definitiv nicht. Ihnen darf man auch nicht thematisch hinterher hecheln. Wir sind starke Demokraten und wir bleiben starke Demokraten!“

Anschließend ergriff der Landrat vom Main-Kinzig-Kreis, Thorsten Stolz (SPD) das Wort: „Ich finde es großartig, dass auch Freigericht ein klares Zeichen für unsere Demokratie, für Freiheit, für ein friedliches Miteinander und für Menschlichkeit setzt. Ich bin dankbar dafür, Landrat in einem Landkreis zu sein, in dem sich Demokratinnen und Demokraten parteiübergreifend zusammenschließen und zum Ausdruck bringen, dass das blau / braune menschenverachtende Gedankengut keinen Platz in der Mitte der Gesellschaft hat. Und er erinnerte daran: „In diesem Jahr feiert die Bundesrepublik 75-jähriges Bestehen und damit auch 75 Jahre Grundgesetz. Das ist nicht irgendein Jubiläum. 75 Jahre Grundgesetz sind die Grundlage dafür, dass wir ein ganz großes Privileg haben. Nämlich seit mittlerweile 75 Jahren in Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und einem gewissen Wohlstand leben zu dürfen. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, dass wir mehr Menschen bewusst machen, dieses Privileg zu verteidigen.“

Für die katholische Pfarrei St. Peter und Paul Freigericht-Hasselroth sprachen Klaus Schmitt sowie für die evangelische Johannesgemeinde Freigericht Pfarrer Markus Wagner-Breidenbach. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – heißt es im ersten Artikel unseres Grundgesetzes. Was da niedergeschrieben ist, entspricht und entstammt einem christlichen Menschenbild, bei dem jeder Mensch als Geschöpf Gottes angesehen wird – und daher alle Menschen Schwestern und Brüder sind. Um diese Würde des Menschen zu ermöglichen, braucht es Freiheit und Gerechtigkeit. Und das heißt: Jeder Mensch braucht Freiheit, um sich zu entfalten. Niemand darf aufgrund seiner ethnischen, nationalen oder religiösen Herkunft, aufgrund seiner sexuellen Orientierung, seines Geschlechtes oder seiner Überzeugungen diskriminiert werden. Und für alle gilt das gleiche Recht. In einer Demokratie lassen sich demnach Freiheit und Gerechtigkeit für alle am besten umsetzen. Auch für Christinnen und Christen sind Freiheit und Gerechtigkeit kostbare Güter. In den großen Erzählungen der Bibel geht es darum, dass Gott Menschen aus der Unterdrückung herausführt und ihnen ein Leben in Freiheit und Gerechtigkeit ermöglicht. Damit verbunden sind Erfahrungen von Fremdsein und Flucht, die in der Bibel zu folgender Einsicht führen: 'Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.' (3. Mose 19, 33-34) Freiheit und Gerechtigkeit sind jedoch nichts Selbstverständliches oder gar ein Automatismus. Freiheit und Gerechtigkeit brauchen den Einsatz eines jeden Menschen."

Sie erzählten das „Gleichnis vom barmherzigen Samariter“. Die Geschichte zeigt: Freiheit, Gerechtigkeit und Achtung der Menschenwürde sind nur dann möglich, wenn alle auch Verantwortung füreinander übernehmen und nicht achtlos aneinander vorbei gehen. Freiheit braucht eine starke Gemeinschaft und Zivilgesellschaft, in der einer den anderen, eine die andere sieht, ihre Nöte wahrnimmt und hilft. Die beiden Geistlichen Klaus Schmitt und Markus Wagner-Breidenbach fassten ihren Beitrag wie folgt zusammen. „Die sogenannte Rettung des christlichen Abendlandes besteht also nicht darin, Menschen, die aus Unfreiheit und Ungerechtigkeit geflohen sind, zu remigrieren. Sondern die Rettung des christlichen Abendlandes besteht darin, dass unser Handeln von der Nächstenliebe bestimmt ist, die Jesus vorgelebt hat und zu der er immer wieder aufgerufen hat. Sei ein Mensch für deinen Mitmenschen! Daher ist es gut, dass wir uns heute hier versammelt haben. Dass wir aufstehen für mehr Achtung und Toleranz, für mehr Freiheit und Gerechtigkeit, für die Menschenwürde. Damit aus Fremden Nachbarn und aus Nachbarn Freunde werden."

Zum Abschluss betonte Achim Kreis, dass die Demo mit dem vollen Rathausplatz ein deutliches Zeichen und ein Bekenntnis für Demokratie, für Frieden und Freiheit und gegen Rechtsextremismus gesetzt hat.

Text und Fotos: Anton Hofmann


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