Syrisches Familiendrama: Ein gesellschaftlicher Wandel?

Hanau
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Kein (Ehren)-Mord, aber eine Tat, die den gesellschaftlichen Wandel aufzeigt: Ein 22-jähriger Bürgerkriegsflüchtling aus Syrien wurde von der 1. Großen Strafkammer im Hanauer Landgericht wegen vorsätzlichen Totschlags zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte zugegeben, am 7. Januar dieses Jahres seine 30-jährige Schwester erstochen zu haben. Sein vier Jahre älterer Bruder, bei der Tat im Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses in der Freigerichtstraße in Hanau ebenfalls mindestens in Reichweite, wurde wegen Körperverletzung zu einer neunmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt. Allerdings machte Richter Dr. Peter Graßmück in seiner Urteilsbegründung deutlich, dass sich die Tat letztlich nicht vollends aufklären ließ.



Von einem gesellschaftlichen Wandel sprach der Vorsitzende der Strafkammer, weil am späten Abend des 7. Januars zahlreiche Personen von der Tat Kenntnis bekamen, aber niemand die Polizei informierte. Ungewöhnlich sei auch, dass in dem Prozess der Ehemann des Opfers oder weitere Angehörige nicht als Nebenkläger aufgetreten seien. „Anteilnahme, Empathie ist auch ein Gegenstand von Integration“, sei in dem Verfahren laut Graßmück nie der Eindruck entstanden, dass sich jemand Gedanken um das Opfer gemacht habe. Nach der Tat hatten sich die Brüder zunächst in Hanau bei einem Bekannten aufgehalten, dann einen Taxifahrer gerufen und eingeweiht, der wiederum eine dritte Person organisierte, der die beiden Angeklagten nach Trier fuhr. Dort trafen sie auf einen weiteren Mann, der ihnen Kleidung und 500 Euro für die Flucht nach Syrien besorgte. Vorher schlug allerdings ein Sondereinsatzkommando der Polizei zu. Graßmück: „Erstaunlich, wie viele Leute daran beteiligt waren“, sei deren Verhalten anders, „als wir es bisher in unserer Gesellschaft gewohnt sind“.

Unklar blieb die Rolle des älteren Angeklagten: Er will sich mit dem Ehemann des Opfers ein Handgemenge geliefert haben, während sein jüngerer Bruder ein Stockwerk höher im gleichen Treppenhaus die Schwester tötete. Letztlich stützte sich seine, vergleichsweise milde Verurteilung auf die Angaben des vermeintlichen Haupttäters und des Ehemannes, zudem er, wie am Rande des Prozesses zu erleben, über acht Monate nach der Tat ein normales Verhältnis pflegt. Nicht aufgeklärt werden konnte, wie eine Blutspur des Opfers auf die Oberseite seines Schuhes kam.

Geschützt wurde er letztlich hauptsächlich durch das Geständnis seines 22-jährigen Bruders, der zugegeben hatte, dass ihm die Sicherungen durchgeknallt seien. An die 15 Messerstiche, mit denen seiner schwangeren Schwester unter anderem Kehlkopf, Luftröhre und eine lebenswichtige Aorta durchgetrennt worden waren, kann er sich angeblich nicht mehr erinnern. Oberstaatsanwalt Jürgen Heinze, der eine lebenslange Freiheitsstrafe gefordert hatte, sprach in seinem Plädoyer davon, dass die 30-Jährige abgeschlachtet worden sei wie ein Schaf. Richter Graßmück bezeichnete es letztlich als „dünnes Eis“, dass das Gericht dieser Sichtweise nicht gefolgt sei. Keine Chance hatte auch das ungeborene Kind des Opfers, das mit 532 Gramm in der 23. Schwangerschaftswoche bereits voll lebensfähig war.

Im Vorfeld der Tötung war es nach Auffassung des Gerichts zu einem Streit zwischen den Angeklagten und dem Ehepaar gekommen. Eine Rolle haben dabei möglicherweise anzügliche Fotos der 30-Jährigen gespielt, die die Ermittlungsbehörden aber nie zu Gesicht bekamen und als „80 Sexvideos“ durch die Akten wanderten. Dass sich der Ehemann von der Toten trennen wollte, wird als relativ sicher angenommen, möglicherweise hatte sie sich aber geweigert, die gemeinsame Wohnung in der Freigerichtstraße in Hanau zu verlassen. Völlig dubios auch die Rolle der Nachbarn: Die 30-Jährige hatte sich bereits in eine Wohnung gerettet, wurde aber wieder rausgeschmissen. Und die Bewohner, vor deren Wohnungstür die Frau erstochen wurde, wollen trotz „dünner Wände in einem alten Haus“, wie Graßmück extra betonte, „Mensch-ärgere-dich-nicht“ gespielt oder sich schlafen gelegt haben und von der vermutlich lautstarken und fünf bis sechs Minuten dauernden Auseinandersetzung im Treppenhaus nichts mitbekommen haben.

Ehre habe daher eine vermutlich eine ganz gehörige Rolle bei der Tat gespielt, die in der Nähe der Mordmerkmale anzusiedeln sei. Allerdings verwies Graßmück auch darauf, dass die beiden Brüder unbewaffnet in die Wohnung gekommen seien und es keine Vorplanung gegeben habe. „Juristisch nicht abwegig“, so die Einschätzung von Oberstaatsanwalt Heinze nach der Urteilsbegründung. Er will nun zunächst prüfen, ob er Revision einlegt. Auch Verteidiger Gordian Hablizel zeigte sich nicht unzufrieden mit der Entscheidung, obwohl das Gericht seinen Antrag um drei Jahre überschritten hatte. Die neunmonatige Freiheitsstrafe für den 26-jährigen Angeklagten wird für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt, außerdem muss er 200 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. Er wird sein Urteil vermutlich annehmen.


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