Loriot, Rilke und Sauerkraut-Lametta

Wächtersbach
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Eine weihnachtliche Stimmung erwartete die Gäste des inzwischen dritten Wächtersbacher Literaturstammtischs, der erneut im Nebenraum der Gaststätte Kikeriki stattfand.

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Die Tische waren dekoriert mit weihnachtlichem Schmuck, Sabrina Kleine-Pursche hatte selbstgebackene Plätzchen für alle mitgebracht, Wirtin Uschi Korn zudem Nüsse, Mandarinen und Schokolade aufgetischt. Und Ronald Willms, einer der Gründer des monatlichen Stammtischs, machte die Stimmung mit seinem Beitrag vollkommen: Aus einer Gedichtsammlung von Rainer Maria Rilke brachte er zwei besinnliche Gedichte und eine humorvolle Geschichte zu Gehör.

Diese rankte sich in schier aberwitziger Manier um den Mangel an Lametta für den Weihnachtsbaum – Sauerkraut wird schließlich als Ersatz gefunden, und prompt Silvester als Speise erneut zum Einsatz gebracht. Die Geschichte rief bei den Gästen Erinnerungen wach an die eigene Kindheit, als „echtes“ Lametta noch üblich war, an Tiere, die mit selbigem spielen – und an die Weihnachtsrituale der Großeltern, die ihren Baum nie ohne Lametta schmückten.

Otto Fiegler brachte mit „Der ewige Schlaf“ von Peter May Auszüge eines spannenden Krimis zu Gehör, der auf einer abgelegenen Atlantikinsel handelt. Auf Entry Island geschieht ein Mord, als Täterin erscheint die Ehefrau des Toten nahe liegend. In zwei Zeitebenen wird die Geschichte eines Vorfahren geschildert, der in den heute französischen Teil Kanadas auswanderte – Mitte des 19. Jahrhunderts. „Die Geschichte von damals hat mich dann mehr interessiert. Es war mir irgendwann egal, wird nun der Mörder gefunden oder nicht“, berichtete Fiegler, der die Geschichte auf ihre Authentizität überprüfte und auch einen Blick auf das Wächtersbach der damaligen Zeit warf. Tatsächlich sind in den Krimi zahlreiche historische Kenntnisse eingeflossen, und „ab 1840/50 sind circa 15 Prozent der Wächtersbacher Bevölkerung ausgewandert, weil sie nicht mehr genug zu Essen hatten.“ Das waren rund 250 Menschen. Fiegler, als Stadtführer mit der Heimatgeschichte bestens vertraut und jüngst für sein Engagement mit dem „Wächter“ ausgezeichnet, bezog in seine Betrachtungen auch die aktuelle Situation der Flüchtlinge mit ein. In der anschließenden Diskussion waren die Hungersnöte als ein Grund für das Ausbrechen der Französischen Revolution, aber auch die Sprachgrenzen in Kanada und die Dialektgrenzen in Wächtersbach im Fokus der Gäste.

Ein handwerklich sehr liebevoll erstelltes Buch, vorgestellt von Stephan Siemon, stand als dritter Titel im Mittelpunkt: Von Jean-Jacques Sempé „Das Geheimnis des Fahrradhändlers“, das Siemon als „wunderschön gemacht“ bezeichnete. Druckfarbe, Seitenspiegel, Fadenbindung, hochwertiges Papier zeichneten das Bändchen aus, das von einem Fahrradhändler in einer kleinen französischen Stadt in der Provence handelt, der ein großes Geheimnis mit sich herumträgt. Die liebevolle Geschichte mit viel Witz, Tiefgang und großartigen Strichzeichnungen sorgte für angeregte Diskussionen über die Wertigkeit von Büchern, die Wertschöpfungskette im Herstellungsprozess, Details zur Machart von Büchern und Qualität und Vorgehen von Zuschussverlagen.

Als Überraschung schließlich steuerte Andrea Euler zum Abschluss des Abends die Loriot-Geschichte „Advent“ bei, bevor die Gäste mit einem kleinen Präsent in der Hand den Veranstaltungsort verließen: Karin Schreiber, die viele Jahre selbst einen Literaturkreis in Rodgau leitete, hatte für alle Besucherinnen und Besucher einen Umschlag mit einem individuell liebevoll gestalteten, weihnachtlichen Gedicht vorbereitet.


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