Sexualisierte Gewalt: „Auch unsere Kirche hat versagt“

Hessen
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Auch in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) gab und gibt es sexualisierte Gewalt. Die so genannte ForuM-Studie, deren Ergebnisse am Donnerstag (25. Januar) vorgestellt wurden, beschreibe und analysiere „das jahrzehntelange institutionelle Versagen“, sagt EKKW-Bischöfin Dr. Beate Hofmann und ergänzt: „Auch unsere Kirche hat versagt und jahrzehntelang nicht auf die Betroffenen und ihr Leid gehört, sondern vor allem die Täter, ihre Familien und das Ansehen unserer Institution im Blick gehabt und falsche Entscheidungen getroffen.“



Für sie als Bischöfin sei es „bedrückend und beschämend, die Ausmaße dieses Versagens zu erkennen“. Zugleich bezeichnet Hofmann es als es gut und wichtig, dass dieses Versagen klar zum Ausdruck komme und untersucht werde. „Wir müssen alles tun, damit denen, die Gewalt erfahren haben und deren Vertrauen missbraucht wurde, zugehört wird, ihr Leid anerkannt und das Unrecht, das ihnen geschehen ist, klar benannt wird“, so die Bischöfin. Sie kündigte an, dass die Landeskirche die Erkenntnisse und Empfehlungen der Studie intensiv studieren und im Dialog mit betroffenen Personen die notwendigen Konsequenzen ziehen werde. „Wir müssen unser Selbstbild kritisch überprüfen und unsere Abwehrmuster überwinden“, sagt sie. Dabei gelte es vor Augen zu haben: „Gott steht auf der Seite derer, die Gewalt erfahren. Er schützt nicht die, die Gewalt ausüben oder vertuschen.“

Täter und beschuldigte Personen: EKKW hat 34 Fälle für Studie übermittelt

Für die unabhängige Studie des Forschungsverbundes ForuM (Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“) hat auch die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck ihre Akten (Disziplinarakten sowie alle Personalakten von aktiven Pfarrerinnen und Pfarrern) untersucht und Fallzahlen übermittelt. Angefordert waren sowohl Verdachts- als auch bestätigte Fälle im Zeitraum 1946 bis 2020, die sexualisierte Gewalt gegenüber Minderjährigen betrafen. Die EKKW hat 34 Fragebögen zu beschuldigten Personen bzw. Tätern gemeldet, darunter sind 22 Pfarrpersonen. Hinzu kamen 76 Fragebögen zu betroffenen Personen, wobei diese Zahl nicht der tatsächlichen Anzahl der Betroffenen entspricht. Die Dunkelziffer ist deutlich höher. Die EKKW ermutigt betroffene Personen, sich zu melden.

Im Rahmen der Untersuchung kamen weitere Fälle ans Licht, unter anderem mit erwachsenen Personen. Aufgrund der in der Aktenrecherche ermittelten sowie der laufenden und geschätzten Fälle ist nach jetzigem Kenntnisstand von etwa 40 bis 50 Tatpersonen auszugehen.

Aufarbeitung, Prävention, Intervention: Das unternimmt die EKKW

Beim Thema sexualisierte Gewalt verfolgt die EKKW mit Aufarbeitung, Intervention und Prävention mehrere Stränge gleichzeitig.

  • Ende 2019 wurde eine unabhängige Anerkennungskommission (vormals Unterstützungskommission) ins Leben gerufen. Die drei Mitglieder der Kommission – ein Richter im Ruhestand, eine Trauma-Therapeutin und die frühere Leiterin von Pro Familia Kassel – sind von der Kirche unabhängig und begleiten Menschen, die sich als Betroffene melden. Die Kommission klärt, ob ein Fall noch rechtlich verfolgt werden kann. Sie überlegt gemeinsam mit den Betroffenen, was sie sich wünschen bzw. brauchen, zum Beispiel psychologische Unterstützung und/oder eine finanzielle Leistung zur Hilfe und Anerkennung ihres Leids. Die Anerkennungskommission hat bislang 21 Menschen getroffen, die sexualisierte Gewalt im Kontext unserer Landeskirche erlebt haben. Rund 481.000 Euro an Anerkennungszahlungen sind seither mit 15 Betroffenen in unterschiedlicher Höhe vereinbart und bewilligt worden.
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  • Um unklar gebliebene oder unzureichend dokumentierte Altfälle aufzuarbeiten, hatte die EKKW 2022 zwei Personen mit juristischer Expertise im Sexualstrafrecht hinzugezogen: eine ehemalige Kasseler Staatsanwältin sowie den früheren Vizepräsidenten des Landgerichts Mühlhausen. Sie waren damit beauftragt, Altfälle rechtlich zu prüfen.
  • Auch an einer systemischen Aufarbeitung ist der EKKW gelegen: Im Herbst 2023 ist ein Forschungsprojekt an der Universität Kassel gestartet, um einen Altfall aus unabhängiger wissenschaftlicher Perspektive aufzuarbeiten.
  • Die Haupt-, neben- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden der EKKW wurden und werden geschult, um sexualisierte Gewalt bzw. die Risiken ihrer Entstehung zu erkennen und Betroffenen professionelle Unterstützung zu vermitteln. Mehr als 2000 Schulungen haben bereits stattgefunden. Geschult wurden Pfarrpersonen, die Beschäftigten im Landeskirchenamt sowie aus Kirchenmusik und Jugendarbeit. Diese Schulungen werden derzeit auf Ehrenamtliche ausgeweitet: Etwa zwei Drittel der Kirchenvorstände sind dank des Einsatzes von rund 30 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren bereits geschult.
  • Die EKKW nimmt jeden Verdachtsfall ernst und geht ihm nach. Jeder Vorfall wird der Kirchenleitung und bei strafrechtlicher Relevanz den zuständigen staatlichen Stellen gemeldet, sofern die Betroffenen letzteres nicht (vorerst) untersagen. Koordiniert wird der Bereich von einer 2019 eingerichteten Fachstelle. Kontakt: Pfarrerin Sabine Kresse, Tel. 0151-1675 2077 oder 0561-9378 404, per E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Mehr zum Thema sexualisierte Gewalt in der EKKW, zahlreiche Kontaktadressen – darunter auch nicht-kirchliche Anlaufstellen gibt es auf der Homepage der Landeskirche unter www.ekkw.de

Hintergrundinformationen    

Der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck gehören mehr als 700.000 Menschen in rund 690 Gemeinden an. Das Gebiet der Landeskirche erstreckt sich von Bad Karlshafen im Norden bis zum Frankfurter Stadtteil Bergen-Enkheim im Süden, vom Waldecker Upland im Westen bis zum im Freistaat Thüringen gelegenen Kirchenkreis Schmalkalden.  

Das Statement von Bischöfin Dr. Beate Hofmann im Wortlaut

"Die ForuM-Studie hat das jahrzehntelange institutionelle Versagen der evangelischen Kirche im Blick auf sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche beschrieben und analysiert. Deutlich wird: Auch unsere Kirche hat versagt und jahrzehntelang nicht auf die Betroffenen und ihr Leid gehört, sondern vor allem die Täter, ihre Familien und das Ansehen unserer Institution im Blick gehabt und falsche Entscheidungen getroffen. Für mich als Bischöfin ist es bedrückend und beschämend, die Ausmaße unseres Versagens zu erkennen. Und zugleich ist es gut und wichtig, dass dieses Versagen so klar benannt und analysiert wird. Uns Verantwortlichen auf allen Ebenen unserer Kirche ist unsere Verantwortung bewusst: Wir müssen alles tun, damit denen, die Gewalt erfahren haben und deren Vertrauen missbraucht wurde, zugehört wird, ihr Leid anerkannt und das Unrecht, das ihnen geschehen ist, klar benannt wird. Es ist deutlich: Sexualisierte Gewalt ist kein Einzelfall, es ist nicht nur ein Problem der Vergangenheit und diese Gewalt muss überall ernstgenommen werden. Wir müssen unser Selbstbild kritisch überprüfen, unsere Abwehrmuster überwinden und strukturelle Konsequenzen ziehen, zum Beispiel in der Dokumentation von Hinweisen, in der konsequenten Aufarbeitung und im Blick auf Strukturen, die Verantwortung verwischen. Und dabei müssen wir immer vor Augen haben: Gott steht auf der Seite derer, die Gewalt erfahren. Er schützt nicht die, die Gewalt ausüben oder vertuschen. Wir werden die Erkenntnisse und Empfehlungen der ForuM-Studie intensiv studieren, diskutieren und im Dialog mit den Betroffenen die notwendigen Konsequenzen ziehen."


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