Diskussion über Misshandlungen in Pflegeheimen

Leserbriefe
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Zur aktuellen Diskussion über die Misshandlungen in Pflegeheimen äußert sich VORSPRUNG-Leserin Danica Radtke aus Birstein in einem Leserbrief.



"Die Empörung ist wieder groß: Pflegepersonal misshandelt Heimbewohner. 'Mühlheim' mag ein Extrembeispiel sein, ein Einzelfall ist es nicht. Auch wenn viele Pflegerinnen und Pfleger ihren Job vorbildlich erledigen, so sind die Auswüchse doch systemimmanent. Die Gründe sind hinlänglich bekannt: Pflegekräfte sind überfordert, unterbezahlt und zum Teil nicht hinreichend qualifiziert. Einen Pflegeschlüssel gibt es nicht. Derzeit kommen in Deutschland im Durchschnitt eine Pflegefachkraft und zwei Pflegehilfskräfte auf 40 Patienten. Man muss kein Mathematiker sein, um zu erkennen, welche Pflegequalität damit möglich ist.

Wo kommen die Pflegekräfte her? Immer öfter aus dem Ausland, ohne grundlegende Deutschkenntnisse. Dabei ist das Gespräch für viele Senioren oft hilfreicher als eine Beruhigungspille. Und dann sind da die Hilfskräfte, die die Arbeitsagentur als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme vermittelt. Die Begeisterung arbeitsloser Kassierer, Buchhalter und Vertriebsleiter dafür, alten Menschen bei der Hygiene zu helfen, dürfte sich in Grenzen halten. Den Pflegeberuf ergreift nur, wer sich persönlich dafür entschieden hat, nicht wer die Arbeitslosenstatistik verbessern soll.

Immerhin gibt es Pflegeorganisationen, die wenigstens den Tariflohn zahlen. Viele tun das aber nicht – zum Beispiel die Einrichtung in Mühlheim, wo die Zustände lange bekannt waren, aber niemanden interessiert haben. So abstoßend dieser Fall auch immer sein mag, man kann ihn aus der Perspektive der Pflegekräfte nüchtern erklären (nicht rechtfertigen!): Sie sind heillos überfordert. Aus Selbstschutz lassen sich viele von ihnen krankschreiben – oder reagieren eben mit sadistischem Verhalten.

Warum ist das in unserem Land möglich? Einfache Antwort: Weil wir es uns gefallen lassen! In der Politik ist – weder in der bisherigen Regierung noch bei den wie auch immer gefärbten künftigen Koalitionspartnern – nicht der geringste Wille zu erkennen, an der Lage etwas zu ändern. Und bei den Bürgern ist nicht im Geringsten zu erkennen, dass sie genau das von der Politik einfordern. Eine seltsame Haltung, denn die meisten von uns werden früher oder später selbst in einer Pflegeeinrichtung ihr Leben beschließen.

Unsere Mentalität in Sachen Pflege (wie bei vielem anderen auch): Bitte 'all inclusive', aber ohne Zusatzkosten! Wie oft erlebe ich es in der Praxis, dass Kinder ihren Eltern keinerlei Pflegeleistungen zubilligen, für die sie selbst aufkommen müssten. Der nächste Urlaub will schließlich auch finanziert werden. Dass ihre eigenen Kinder einmal selbst so denken – und handeln – könnten, kommt ihnen kurioserweise nicht in den Sinn.

Die Politik wird’s jedenfalls nicht freiwillig richten, denn sie kommt mit unserer Realität gar nicht in Berührung. Politiker können sich schließlich von ihren Diäten Pflege auf höchstem Niveau leisten. Doch wenn wir von ihnen nicht einfordern, was uns zusteht, bekommen wir auch das, was wir verdienen. Die Pflege braucht uns alle als Lobbyisten – in unserem eigenen Interesse."

Danica Radtke
Pflegedienstleiterin einer ambulanten Pflegeeinrichtung in Obertshausen/Mühlheim
Am Erlenborn 12
63633 Birstein

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