Homeschooling aus der Perspektive einer Freilerner Familie

Leserbriefe
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Homeschooling aus der Perspektive einer "Freilerner Familie" beschreibt VORSPRUNG-Leserin Sandra Strauß in ihrem Leserbrief.



"Kinder lernen und entdecken ihre Welt von klein auf ganz von allein. Das Kind kommt mit einer natürlichen Neugier und einem inneren Antrieb auf die Welt, sich selbst, seine Fähigkeiten und seine Umgebung verstehen, begreifen und aus diesem Grund erforschen zu wollen. Lernen findet dabei auf so vielfältige Weise und ganz individuell statt. Jeder Mensch geht dabei seinen eigenen Weg. Wir Erwachsenen können Kinder dabei unterstützen, indem wir die Welt gemeinsam mit ihnen entdecken, ihre Interessen fördern und ihnen eine Umgebung zur Verfügung stellen, die sie inspiriert und zum Lernen anregt. Grundvoraussetzung für jedes Lernen ist dabei eine entspannte Atmosphäre und eine Umgebung, in der das Kind sich wohl fühlt. Hier kann es sich nun mit den Themen auseinandersetzen, die für es von Interesse und Bedeutung sind. Dies macht es zu einem selbst gewählten Zeitpunkt, so lange und mit wem es das möchte. So schaffen wir gute Voraussetzungen für ein selbst gesteuertes lebenslanges – und zufriedenes – Lernen.

Wir haben zwei Töchter: unsere ältere Tochter geht in die dritte Klasse und die jüngere wird im Sommer eingeschult. Den ersten Lockdown und das damit verbundene Homeschooling waren für uns eine extreme Belastung, welche das ganze Familiensystem auf eine harte Probe gestellt hat. Ständig neue Arbeitsblätter, Wiederholungen, deren Sinn meiner Tochter – und häufig auch mir - unverständlich blieb. Funktioniert hat es nur mit Druck und meiner ständigen Anwesenheit an ihrer Seite. Die Schule hat unser Familienleben beherrscht. Eine entspannte Atmosphäre des Lernens sieht anders aus…

Seit dem Sommer geht unsere Tochter auf eine freie Schule und den aktuellen Lockdown und das Homeschooling erleben wir nun ganz anders. Jetzt können wir tatsächlich mit beiden Kindern unsere Philosophie des 'Freilernens' leben. Einen festen Stundenplan gibt es dabei nicht und so besprechen wir gemeinsam, womit wir uns an diesem Tag und in dieser Woche beschäftigen möchten. Meist übernimmt es meine große Tochter auf dem Plan einzutragen, wer welche Aufgaben an diesem Tag übernimmt. Einen Wochenplan für sich selbst hat sie auch entworfen, wo sie einträgt, was sie im Laufe der Woche erledigen möchte. Das Versorgen der Hunde und Fische ist für sie schon selbstverständlich geworden, aber zurzeit übernimmt sie auch gerne weitere Aufgaben im Haushalt: Wäsche sortieren, Waschmaschine und Trockner bedienen, Wäsche auf den Trockner hängen – alltägliches Lernen, was mich zusätzlich entlastet. Unsere jüngere Tochter räumt in der Zeit meist die Spülmaschine aus oder kümmert sich darum, die Eier aus dem Hühnerstall zu holen. Nach der Versorgung der Tiere (wir haben auch noch Meerschweinchen, Ziegen, Schafe, Katzen, Enten und Ponys), zu der aktuell auch das Aufziehen eines Ziegenbabys mit der Flasche gehört, stehen unsere eigenen Interessen im Vordergrund.

Unsere große Tochter beschäftigt sich vor allem mit zeichnen, der Architektur, bauen und konstruieren. Hierzu haben wir viele kindgerechte Bücher und lassen uns von den Malern und den Bauwerken unserer Geschichte inspirieren. Filme zum Bauen und Leben im Alten Rom oder zu den besonderen Bauwerken unserer Gegenwart schauen wir uns gemeinsam an. Auch das Städel hat ein paar ein schöne Kinderseiten, von deren Ideen wir profitieren. Aktuell arbeitet sie an zwei „Bauprojekten“, bei denen sie nach Bedarf Unterstützung erhält: Mit Mini-Bausteinen aus dem Modell- Architekturbedarf möchte sie ihr erstes eigenes Modellhaus bauen. Bei Projekt 2 fotografiert sie Häuser in unserem Dorf, deren Baustil ihr gefällt, die sie zeichnen und auf Pappe übertragen möchte, um auch daraus Modellbauten anzufertigen.

Unser ganzes Haus besteht aus „Lernstationen“, die das Interesse unserer Kinder wecken sollen und sie einladen, sich mit ihnen zu beschäftigen: eine Weltkarte mit kindgerechten Büchern zu Geographie, Geschichte und Politik, dasselbe mit einer Deutschlandkarte und den passenden Büchern und Spielen; Bilder bekannter Maler zieren den Künstlerbereich und werden ergänzt durch Maluntensilien, Bücher über berühmte Maler und bekannte Kunstwerke; Kinderopern, klassische Musik und Bilder bekannter Musiker stehen im Musikbereich und werden ergänzt durch die passenden kindgerechten Büchern zu den Opern oder den Komponisten. Die Schreibstation und der Mathematikbereich enthalten sowohl Material von Maria Montessori als auch Spiele, bei denen man sich spielerisch mit Buchstaben und Zahlen auseinandersetzen kann.

Unsere jüngere Tochter ist in ihrer ganzen Persönlichkeit 'Freilernerin' und zeigt uns dies ganz deutlich, indem sie schon immer selbst die Entscheidung getroffen hat, was und wann sie etwas lernen möchte. Hat sie diese Entscheidung erst einmal getroffen verfolgt sie ihr Ziel mit ihrer ganzen Energie und viel Enthusiasmus – diese Motivation erreicht man tatsächlich nur, wenn sie „von innen heraus“ kommt. Für sie sind unsere Lernstationen ganz besonders wichtig: schon nach dem Aufstehen macht sie häufig an der Weltkarte halt, schlägt die Bücher mit bedeutenden Persönlichkeiten auf oder sucht auf der Deutschlandkarte die Ziele heraus, die sie besuchen möchte, sobald wir wieder reisen dürfen. Auch sie liebt es zu malen, aber sie lässt sich dabei von den Bildern großer Maler inspirieren und so zieren die Wände ihres Barbie Hauses Bilder von Franz Marc, Leonardo da Vinci und Frida Kahlo – auf kindgerechte Weise nachgemalt. Die Lernstation „Körper“ ist erst durch ihr Interesse entstanden, als sie eigenständig ein „Körperbuch“ entworfen hat. Lesen, Schreiben und Rechnen bringt sie sich gerade mit dem vorhandenen Material selbst bei. Von Zeit zu Zeit stellt sie dabei eine Frage, während sie ganz selbstverständlich eine Zeitung oder eine Speisekarte entwirft.

Ergänzt werden unsere Lernstationen durch unterschiedliche Spiele wie Monopoly, Memory, Deutschlandreise und Zeitreise. Aber wir verbringen auch viel Zeit mit dem Lesen von Klassikern der Weltliteratur für Kinder sowie Büchern wie 'Harry Potter' oder 'Lotta-Leben'. Jedes Familienmitglied ist an einem Tag in der Woche für das Kochen verantwortlich und je nachdem, um welches Gericht es sich handelt, werden die Kinder beim Kochen immer selbständiger. Hier müssen sie erst ein Rezept heraussuchen, die Einkaufsliste schreiben, einkaufen gehen und dann nach Rezept kochen. Und sie übernehmen Verantwortung für die Versorgung der Familie. Wenn ich auf die letzten Wochen des Freilernens zurückschaue, so wird mir bewusst, wie viel Wissen sich meine Kinder in dieser Zeit angeeignet haben und bin mir sicher, dass dieses Wissen für sie von großer Bedeutung ist. Aus den vergangenen Interessen sind neue gewachsen. Der Frühling steht vor der Tür und so werden wir bald wieder mehr Zeit mit der Gartenarbeit, den Wildkräutern und dem Kochen am Lagerfeuer verbringen. Außerdem wollen wir ein Baumhaus bauen, sobald das Wetter besser ist…

Auch ich verbringe viel Zeit damit, meine Kinder beim Lernen zu begleiten. Aber das Gefühl ist ein komplett anderes als im ersten Lockdown: jetzt entdecken und forschen wir gemeinsam und lassen uns von unseren eigenen Interessen leiten. Dass wir dabei ganz nebenbei lesen, schreiben, rechnen und uns mit Themen aus den Bereichen Sachkunde und Biologie beschäftigen, ist nebensächlich. Wir machen keine Hausaufgaben, die uns jemand anderes vorgibt, sondern wir beschäftigen uns mit Themen, die uns Spaß machen, und das Lernen findet ganz nebenbei statt… Wenn ich selbst mal keine Zeit habe und meiner Arbeit nachgehe, dann ist auch das ok. Gerade jetzt im Lockdown entspannt das unser Familienleben ungemein. Es nimmt sehr viel Druck von uns. Der Lockdown hat uns in unserer Entscheidung zum Schulwechsel nur bestärkt.

Natürlich ist mir bewusst, dass ein Schulwechsel nicht für jede Familie möglich, erwünscht oder überhaupt die richtige Lösung ist. Aber in der aktuellen Situation ist es für mich unverständlich, warum man an der Stelle, die man beeinflussen kann, nicht den Druck von den Familien nimmt, sie entlastet anstatt noch zusätzlich schulischen Druck aufzubauen? Finanzieller Druck, Existenzängste, beengte Wohnverhältnisse, Zukunftsängste.. Familien brechen auseinander, weil sie dem Druck nicht standhalten.. und wie wir wissen, zeigen immer mehr Kinder psychische Auffälligkeiten.. Eltern kämpfen um ihre Existenz, während sie gleichzeitig versuchen, ihre Kinder in allen Fächern von Mathematik und Deutsch bis zu Religion und Musik zu unterrichten… hier versagt meiner Meinung nach unser System und geht auf Kosten unserer Kinder und auf Kosten ganzer Familien! Eine Lernatmosphäre schaffen, in der Kinder sich wohl fühlen und voller Spaß die Welt, die sie umgibt, entdecken und erforschen können… das, was jetzt gerade im Homeschooling mit unseren Kindern im normalen Schulsystem passiert, ist meiner Meinung nach weit davon entfernt!

Wir haben das Glück, dass wir von unserer Schule in unserem Freilernen begleitet werden. Jedes Kind, aber auch jede Familie erhält die Unterstützung, die es benötigt. Morgens und mittags gibt es für die Kinder einen Morgen- und einen Abschlusskreis per Videokonferenz. Hier geht es vor allem darum, den Kontakt zu den Kindern und das Gemeinschaftsgefühl aufrecht zu erhalten und das Bedürfnis nach sozialen Kontakten zu befriedigen. So gelingt es zumindest, die Schulfreunde alle einmal täglich zu sehen und miteinander zu sprechen. Auch wir Eltern erhalten einmal in der Woche die Möglichkeit, uns miteinander und mit den Lernbegleitern per Videokonferenz auszutauschen. Auf diese Weise stärken und unterstützen wir uns gegenseitig in dieser für alle schwierigen Situation.

Zusätzlich zu den Videokonferenzen werden die Kinder individuell mit unterschiedlichem Lernmaterial versorgt: per digitaler Pinnwand und Email gibt es vielfältige Ideen aus den Bereichen Mathematik, Deutsch und Kunst. Zusätzlich können die Kinder sich auch Material aus der Schule ausleihen, was meine Tochter gerne nutzt. So ist es möglich, dass sich jedes Kind interessenorientiert weiterbilden kann. Zusätzlich gibt es Angebote, zu denen die Kinder sich einwählen können, und manches dafür nötige Material wird uns direkt nach Hause gebracht oder geschickt. Was ich aber als sehr viel wichtiger in dieser Zeit erachte, ist die ständige Bereitschaft der Lernbegleiter, für 'ihre' Kinder da zu sein. So befindet sich meine Tochter in einem Briefaustausch mit einer Lernbegleiterin, weiß aber auch dass sie alle drei Lernbegleiter anrufen kann, wenn sie das Bedürfnis danach hat oder sich Unterstützung – egal welcher Art – wünscht. Sich nicht allein zu fühlen und individuell durch diese schwierige Zeit begleitet zu werden, ist meiner Meinung nach aktuell viel wichtiger als die strikte Fortführung eines Lehrplans!"

Sandra Strauß
Biebergemünd

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