Erwin Müller: Einblicke in reale Ermittlertätigkeit

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Ein außergewöhnlicher Abend und ein ungeplanter Verlauf: So lässt sich die lange Kriminacht zusammenfassen, zu der die Bad Orb Kur GmbH am zurückliegenden Samstagabend ins Foyer der Konzerthalle eingeladen hatte.



Außergewöhnlich deshalb, weil die Lesung Tatsachendarstellung eines unaufgeklärten Kriminalfalls und Roman in einem präsentierte, ungeplant, weil von den beiden angekündigten Autoren nur einer auf der Bühne stand. Oliver Becker, der unter dem offenen Pseudonym Leo Born seine Frankfurter Krimireihe rund um Mara Billinsky vorstellen wollte, lag zu dieser Zeit im Bett. Corona. Erwin Müller, Ex-Kommissar und Autor des Titels „Todestransit. Die Mordsache Stippbachtal“, bedauerte, seinen Kollegen nicht kennenlernen zu können, bestritt das abendliche Programm dafür jedoch routiniert und fachlich verziert in voller Länge.

Zunächst jedoch waren die Besucher gefragt, die von Moderatorin Andrea Euler gebeten wurde, dem erkrankten Becker einen Genesungswunsch zu senden: Sie fotografierte die winkende Gästeschar für den Frankfurter und schickte ihm die guten Wünsche per email von „seinem Publikum“. Becker antwortete mit einem erfreuten Dank und betonte „Ich wär so gerne da gewesen“. Für ihn war es das erste Mal, dass er eine angekündigte Lesung absagen musste.

Erwin Müller gab diese neue Situation die Chance, die Gäste ausführlich mit auf den Weg zu nehmen, den die Ermittlungen seinerzeit nahmen. Am 16. November 1981 wurde in einem langgestreckten Tal bei Sinn die Leiche eines verbrannten Mannes gefunden, der zu diesem Zeitpunkt jedoch schon vier Wochen tot war – er wurde erschlagen. Die sterblichen Überreste der Gräueltat wurden in einem Koffer zum Fundort gebracht, dort angesteckt. Und am nächsten Morgen stand die Kripo Dillenburg in dem schmalen Tal nahe des mittelhessischen Ortes. Desillusionierend die Beschreibung Müllers, wie schnell die kleine Arbeitsgruppe, die bei Kapitaldelikten eingerichtet wird, zu bröckeln beginnt: „Das Kriminalgeschehen bringt jeden Tag neue Fälle“, erklärte der pensionierte Kriminalbeamte, dass nach und nach die Zuständigen für Rauschgift-, Brand- und Waffendelikte abgezogen wurde. „Nach einigen Wochen war der Hauptsachbearbeiter Hansmann auf sich alleine gestellt. Nach meiner Pensionierung habe ich gedacht: Vielleicht hätte ja Hansmann mehr Unterstützung bekommen sollen.“ Dass die Ermittlernamen im Buch in Alias-Namen geändert wurden, versteht sich für den Fachmann von selbst.

2004, beim Umzug der Polizei Dillenburg, landete die Drittschrift der Polizeiakte bei Müller zu Hause. Und fristete dort ihr Dasein in einem privaten Aktenständer bis zu Müllers Pensionierung 2013, um dann als Grundlage für den langgehegten Plan des Jungautors zu dienen, daraus ein Buch zu machen. Er stellte jedoch schnell fest: „Wenn Du nur die Ermittlungsakte wiedergibst, das interessiert doch niemanden.“ Der Fall gilt bis heute als „Cold Case“, es ist seinerzeit weder gelungen, Opfer noch Täter zu ermitteln. Für Müller war klar: „Wenn Du das in einem Buch verwursteln willst, musst Du die Identität des Opfers erdenken – und die des Täters.“ Eine „letzten Kick“ dabei lieferte eine „Flüchtlingsrückführung“ in den Kosovo, an der Müller beteiligt war. Dort reifte der Gedanke, das Opfer zu einem Menschen aus Albanien zu machen, den imaginären Täter zu einem SS-Mensch, „der 1943 in Jugoslawien schlimme Dinge begeht und später auf das Mordopfer trifft“.

Dem romanhaften Teil des Buches widmete Müller am Lesungsabend einen kleineren Teil seines Vortrags. Größeren Anteil hatte die Darstellung der realen Ermittlungsarbeit, die von Bildern begleitet wurde. Müller zeigte sich dabei sensibel seiner Gästeschar gegenüber: „Wer meint, so was nicht sehen zu können, bitte jetzt mal die Augen schließen“, fordert er auf, bevor er Fotos der verkohlten Leiche auf die Leinwand projiziert. Er berichtet von einer Vielzahl an Spuren an Koffer, Kronkorken, Kleidung. Von einem Kassenzettel einer Drogerie in Berlin. Einem Abriss-Streichholz. Von der wichtigen Bedeutung von Zahnschemata. Von der Problematik, Fingerabdrücke bei einer verkohlten Leiche zu nehmen. Von zahllosen Hinweisen und davon, wie enttäuschend es stets aufs Neue war, wenn sich eine vielversprechende Spur wieder einmal in Nichts auflöste. Etwa bei der Kontrolle von 147 VW-Käfern aus dem Raum Bad Mergentheim, die binnen dreieinhalb Tagen alle in Augenschein genommen wurden. „147 Spuren – alle negativ.“

Bis Februar 1985 dauert es, bis die Rekonstruktion des Originalschädels vorlag, die in der Rechtsmedizin Kiel vorgenommen wurde. Mit dieser wurde es möglich, am 5. Juli 1985 bei Ede Zimmermann in Aktenzeichen XY ungelöst in der Fernsehfahndung zu landen. Den Beitrag hatte Müller als Aufzeichnung dabei – die altertümliche Darstellung der 80er brachte einige im Publikum zum Schmunzeln. 3.000 Mark Belohnung wurden seinerzeit ausgesetzt für die Ergreifung des Täters.

„Die würden auch heute noch bezahlt“, sagte Müller. „Vermutlich würde man 1.500 Euro zahlen.“ Den Schädel hat er in diesem Jahr wieder abgeben, nach einem TV-Beitrag über den Fall. Es gab tatsächlich neue Hinweise, zudem liegen inzwischen andere Möglichkeiten der Genanalyse vor. „Mord verjährt nicht“, rief der ehemalige Ermittler in Erinnerung. „Andere Akten werden vernichtet. Diese hier nicht. Die Kollegen sind immer noch dran.“

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