„Aus der Geschichte lernen – Nie wieder Faschismus!“

Bad Orb
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An der Kundgebung „Gemeinsam für die Demokratie und gegen den Extremismus“ nahmen rund 400 Menschen auf dem Salinenplatz in Bad Orb teil.

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Zu der Veranstaltung hatten der Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung der Kurstadt eingeladen.  Der Salinenplatz war für Meinungsfreiheit und Sprache gegen Rassismus, Hass und Rechtsextremismus der ideale Ort zwischen Altstadt und Kurpark. Unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“ sprachen sich die Redner*innen für Demokratie, Vielfalt und Wertschätzung aus. Sie unterstützten mit Beifall die Ausführungen vom Stadtverordnetenvorsteher Michael Heim (der gleichzeitig als versammlungsleiter fungierte), Bürgermeister Tobias Weisbecker, drei junge Bürgerinnen von Bad Orb und Pfarrer Stefan Kümpel von der katholischen Pfarrgemeinde St. Martin. Lara Bangert moderierte die Veranstaltung. Leo und Christiane Weisbecker, „Leorissimo“, sorgten mit passender Auswahl für die musikalische Umrahmung, darunter „I Will Survive“ und das Antikriegslied „Sag‘ mir, wo die Blumen sind“.

Stadtverordnetenvorsteher Michael Heim wies gleich zu Beginn seines  Statements auf den wichtigsten Artikel des Grundgesetzes hin, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und sie zu achten und zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist. Er gehört zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. „Ich möchte jetzt keinen politischen Rundumschlag gegen jeden und alles machen, sondern unser Fokus soll gegen jeglichen Populismus, jegliche Radikalität, gegen Rassismus und Antisemitismus gerichtet sein. Wenn ich sage: >jegliche< dann meine ich eben, Radikalismus aus allen Richtungen, egal ob rechts oder links, egal ob aus religiös fundamentalistischen Gründen oder was auch immer. Ich will erreichen, dass trotz aller politischen Unterschieden wir Bad Orber ein gemeinsames Verständnis von Rechtstaatlichkeit haben und gleichermaßen auf dem Boden unseres Grundgesetzes stehen und dass auch auf dem Land aus der Mitte der Gesellschaft die sogenannte schweigende Mehrheit jetzt aufgeweckt durch das Unwort des Jahres >Remigration< hör- und sichtbar wird“ leitete Heim die Kundgebung ein.

„Wir können aus der Geschichte wirklich lernen. Als ganz markantes und deutliches Beispiel steht für mich der Begriff: Der "Mustergau Thüringen". Er war ein Experimentierfeld, auf dem erprobt wurde, wie die Bevölkerung gleichgeschaltet und das nationalsozialistische Gedankengut am besten umgesetzt werden konnte. Vieles von dem, was nach der Machtergreifung 1933 in ganz Deutschland geschehen würde, war zuvor in Thüringen erdacht und erprobt worden.

Im August 1926 fand der zweite Parteitag der NSDAP im Weimarer Nationaltheater statt. Ein Zeitzeuge:  "Die Straßen wimmeln heute Nachmittag von Hakenkreuzlern in grauen Joppen und grauen Stürmern mit Hakenkreuz und Stahlhelm-Abzeichen. Je mehr man von ihnen sieht, umso mehr verstärkt sich der Eindruck, dass die meisten heruntergekommener Mittelstand sind. Die Hakenkreuztruppen, etwa 3.000 Mann, bilden ein Carre; die Mitte des Platzes bleibt leer. Nach beendetem Aufmarsch verschwinden die Fahnen und erscheinen nach einigen Minuten wieder auf dem Balkon des Nationaltheaters, wo jetzt zwei Dutzend blutrote Hakenkreuzfahnen den Hintergrund zu Ludendorff im schwarzen Gehrock bilden. Das ist das Wesentliche, der ernste Sinn dieser theatralischen Schaustellung: eine öffentliche Verschwörung zum Zwecke eines Staatsstreichs."

Es war der Beginn des Aufstiegs der NSDAP und Adolf Hitlers. Im national gesinnten Bürgertum Weimars fiel die Propaganda der Nationalsozialisten auf fruchtbaren Boden. In Thüringen feierten sie auch ihren ersten parlamentarischen Sieg: nach den Landtagswahlen vom 8. Dezember 1929 wurde die NSDAP zum ersten Mal an der Regierung eines Landes beteiligt. Wilhelm Frick wurde zum ersten nationalsozialistischen Minister Deutschlands. Am 23. Januar 1930 wurde er vom Landtag zum Innen- und Volksbildungsminister gewählt. Und er ließ keinen Zweifel daran, wohin die Reise gehen sollte. Im Verlauf seiner Amtszeit nahm er mit seiner Politik die ab 1933 in ganz Deutschland etablierte Diktatur vorweg: er säuberte den Beamtenapparat und besetzte wichtige Posten mit NS-Vertrauensleuten. Erich Maria Remarques Erfolgsbuch "Im Westen nichts Neues" wurde für alle Schulen und Bibliotheken des Landes verboten, Schulgebete wurden eingeführt gegen die "Verseuchung des deutschen Volkstums durch fremdrassige Unkultur".

Drei Jahre später fuhr die NSDAP bei den Wahlen zum Thüringer Landtag einen erdrutschartigen Sieg ein - sie kam auf 42,5 Prozent. Den Nazis war es in den Dörfern im Thüringer Wald gelungen, eher links eingestellte Wählerschichten an sich zu binden. Speziell das kleinbürgerliche Milieu verspürte auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise Angst, nach Weltkrieg und Inflation erneut alles zu verlieren. Am 26. August 1932 wurde Fritz Sauckel, der Weimarer Gauleiter der Partei, zum Ministerpräsidenten gewählt. Wie er seine politische Macht nutzen wollte, hatte Sauckel schon drei Tage vor seiner Wahl angedeutet: "Wir werden in diesem Hause alle Macht, die wir durch die Wahl aufgrund unseres Kampfes in 13 Jahren erreicht haben, ausnutzen."

 In seiner Regierungserklärung sprach er von seiner Idee eines völkischen Staatsaufbaus. Fritz Sauckel stimmte sich eng mit Adolf Hitler ab, dem er treu ergeben war. Der "Mustergau Thüringen" war fortan ein Experimentierfeld, auf dem erprobt wurde, wie die Bevölkerung gleichgeschaltet und das nationalsozialistische Gedankengut am besten umgesetzt werden konnte. Vieles von dem, was nach der Machtergreifung 1933 in ganz Deutschland geschehen würde, war zuvor in Thüringen erdacht und erprobt worden. Bereits im Dezember 1932 hatte Sauckel zum landesweiten "Judenboykott" aufgerufen, der zu dieser Zeit allerdings ohne Wirkung blieb.

Am 3. März 1933, knapp fünf Wochen nach der Machtübernahme der National- sozialisten, wurde in Nohra bei Weimar das erste Konzentrationslager Deutschlands errichtet. Es befand sich auf dem Gelände einer Schule für Wehrertüchtigung. Die ersten Insassen waren etwa 200 Kommunisten, die aus überfüllten Thüringer Gefängnissen ins KZ gebracht wurden. Im Juli 1937 errichteten die Nazis das Konzentrationslager Buchenwald. „Das sollte uns allen Mahnung sein“ beschwor Stadtverordnetenvorsteher Michael Heim die Veranstaltungsteilnehmer*innen.

Bürgermeister Tobias Weisbecker und die drei jungen Bad Orber waren sich bei ihren Ausführungen bei der Kundgebung darüber einig: „Wir dürfen nicht schweigen. Wer Hetze gegen Mitbürger*innen mit Migrationsgeschichte betreibt, Deportationspläne schmiedet und rechtes Gedankengut vertritt, spaltet nicht nur die bunte Familie aller Orber, sondern ist eine Gefahr für die Demokratie und unsere offene Gesellschaft“ begannen. Gleichzeitig betonten sie alle gemeinsam: „Wir für Vielfalt, Respekt und Wertschätzung. Auf der Grundlage des Grundgesetzes fördern wir aktiv die Chancengleichheit und Teilhabe in Gesellschaft, unabhängig von Alter, Geschlecht, sexueller Identität, Behinderung, ethnischer Herkunft, Religion und Nationalität."

In Anbetracht der „braunen“ Gefahr, müssten alle Mitbürger*innen zusammenstehen, weil die Einheit gegen den Faschismus eine zentrale Lehre aus der deutschen Geschichte sei. „Wenn wir zusammen Flagge gegen Hetze und Ausgrenzung zeigen, hat der Hass keine Chance“, bekräftigten der Bürgermeister und die jungen Bad Orber. Pfarrer Stefan Kümpel von der katholischen Pfarrgemeinde St. Martin bekannte, dass ihm die Frage öfters begegnete, wo die katholische Kirche bleibt, wenn für Demokratie und gegen Rassismus und Antisemitismus demonstriert wird. „Mit Recht wird so gefragt. Sicher ist es als Kirche nicht unsere spezifische Aufgabe, Tages- oder Parteienpolitik zu betreiben.

Wenn es aber um die grundlegenden Werte unseres Zusammenlebens geht – um Menschenwürde und Menschenrechte – dann dürfen wir nicht schweigen. Die Kirche hat es vor über 90 Jahren schon einmal versäumt, rechtzeitig ihre Stimme zu erheben. Das darf nicht wieder geschehen!“ so Kümpel wörtlich und weiter: „Ich bin dankbar, dass sich die katholische Bischofskonferenz in dieser Woche klar und deutlich gegen Extremismus und Rassismus ausgesprochen hat“.

Pfarrer Kümpel macht sich über Auseinandersetzungen in unserer Gesellschaft Sorgen und welche Abgründe sich da manchmal auftun: wie Menschen sich verführen lassen von radikalen und extremistischen Positionen aller Art. „Mit schwarz-weiß Parolen wird so getan, als gäbe es einfache Lösungen. Nein, unsere Welt ist komplex geworden: Kriege, Migration, Globalisierung und ähnliche Dinge werden von vielen Menschen als Überforderung erlebt. Sie lösen Angst aus. Und nicht wenige erliegen der Versuchung, „das Gift der einfachen Lösungen“ (Bischof Feige) zu trinken. Aber wir brauchen Menschen, die solche Komplexität aushalten und die in manchmal mühsamem Ringen nach schöpferischen Lösungen suchen. Das macht Demokratie aus“ fasste er seinen Appell zusammen.

Das Zweite, was ihn besonders erschreckt, ist die Judenfeindschaft in unserem Land. Sie hat ein Ausmaß angenommen, das er sich nicht vorstellen konnte. Dass Schüler im Kino applaudieren, als der Satz eingeblendet wird, dass die Nazis 6 Millionen Juden ermordet haben. Dass deutsche Juden bedroht, ja zusammengeschlagen werden, weil man sie verantwortlich macht für das, was in Gaza geschieht. So heftig seit dem 7. Oktober gegen Israel demonstriert, ja sogar seine Vernichtung gefordert wird („Tod den Juden!“ wurde auf unseren Straßen gerufen), so laut dröhnt nach seinen Worten das Schweigen nach dem Terrorangriff der Hamas.  „Von der großen Mehrheit in unserem Land kam nichts. Aber das war nicht nur ein Angriff auf Israel, sondern auch auf unsere zivilisierte, demokratische Kultur, ein Angriff auf uns alle! >Judenhass ist Menschenhass. Und Hass ist das Ende der Demokratie< (Michel Friedmann). Als Deutsche und gerade als Christen müssen wir an der Seite unserer jüdischen Mitmenschen stehen.“ sagte  Pfarrer Stefan Kümpel zum Abschluss seines Redebeitrages.

Text und Fotos: Anton Hofmann


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