Bedeutende Industriegeschichte für die Region erhalten

Brachttal
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Der Main-Kinzig-Kreis hat das Firmenarchiv der „Waechtersbacher Keramik“ gesichert und damit einen wichtigen Teil der heimischen Industriegeschichte erhalten.



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Vor rund 100 Jahren erlebte die Steingutfabrik ihre Glanzzeit. Heute ist das einst weltbekannte Unternehmen vor allem ein herausragendes Beispiel der wirtschaftlichen Entwicklung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. „Es ist eine wichtige Aufgabe, dieses Kapitel der Industriekultur zu bewahren“, sagt Landrat Thorsten Stolz bei einem Besuch an der ehemaligen Produktionsstätte in Schlierbach.

Das Gelände mit seinen historischen Gebäuden steht teilweise zum Verkauf, einige Bereich werden bereits von verschiedenen Unternehmen genutzt. Damit drohten auch zahlreiche Bestände des umfangreichen Firmenarchivs veräußert zu werden und so aus dem Blickfeld zu verschwinden. Dieser möglichen Entwicklung wollten zahlreiche Akteure vor Ort in Brachttal nicht tatenlos zusehen. Sie versuchten Gelder für einen Archivkauf anzuwerben und erkundigten sich nach entsprechenden Fördermöglichkeiten.

Diese Alarmsignale erreichten auch die Kreisspitze und verschiedene Optionen wurden geprüft. Schließlich reifte im März die Entscheidung, die einmalige Chance zu nutzen und große Teile des Firmenarchivs zu erwerben. Der Kreisausschuss stellte dafür die entsprechenden Mittel in Höhe von rund 20.000 Euro zur Verfügung. Damit konnten wichtige Dokumente, Vorlagen, Schablonen und Muster aus der rund 180jährigen Geschichte gesichert werden.

„Nach Einschätzung der beteiligten Fachleute und unseres Zentrums für Regionalgeschichte war dieser Schritt notwendig, um eine Auflösung der einzigartigen Sammlung zu verhindern“, sagt Landrat Thorsten Stolz. Die Leiterin des Zentrums für Regionalgeschichte, Christine Raedler, sichtete das vorhandene Material und bereitete den Ankauf vor. Die komplette Sammlung umfasst das Papierarchiv mit zahlreichen Skizzen- und Dekorbüchern, etwa 3000 Kupfer- und Metalldruckplatten, die Keramiksammlung der ehemaligen Produktion, wertvolle Modelle und Prototypen, die umfangreiche Glasplattensammlung und sonstige Negative, Produktionsformen für Keramik sowie Entwurfszeichnungen und weitere Stücke. Außerdem wurden Kataloge, Baupläne, geschäftliche Korrespondenz und handschriftliche Protokolle übernommen.

Wie der Landrat erläutert, soll durch den Ankauf das kulturhistorisch einmalige und für die Heimatgeschichte bedeutsame Firmenarchivgut für die Akteure vor Ort sichergestellt werden. Darüber hinaus soll es inventarisiert und durch ein Regelwerk für eine öffentliche Nutzung zugänglich gemacht werden.

Mittlerweile haben die Ehrenamtlichen vor Ort unter Federführung des Zentrums für Regionalgeschichte wesentliche Teile des Archivs geordnet, verpackt und in das neue Depot in Gelnhausen transportiert. Die Gemeinde Brachttal hat in Aussicht gestellt, eine Lagermöglichkeit für weitere Archivbestandteile wie die Keramiksammlung der Produktion zur Verfügung zu stellen. Weiterer Lagerraum für die Sammlung historischer Produktionsformen aus Gips hat sich in einer örtlichen Hochregallagerhalle auf dem alten Werksgelände ergeben.

Landrat Thorsten Stolz dankt den vielen engagierten Personen, die sich um Thema „Wächtersbacher Keramik“ intensiv bemühen. Da die Steingutfabrik einer der größten Arbeitgeber war und fast ausnahmslos die Familien der Region zwischen Büdingen, Birstein, dem heutigen Brachttal und des Vogelsbergs ernährte, identifizieren sich noch heute viele Menschen vor Ort mit der Firma. Ungebrochen ist vor allem die Identifizierung mit der langen Produktionszeit und den daraus hervorgegangenen Produkten – insbesondere mit der Glanzzeit des „Wächtersbacher Jugendstils“, in der die von 1903 bis 1921 von Christian Neureuther geleitete Kunstabteilung lebhafte Kontakte zu den Künstlern der Darmstädter Mathildenhöhe pflegte.

Ortstermin in der ehemaligen Steingutfabrik (von links):  Landrat Thorsten Stolz, Christine Raedler (Zentrum für Regionalgeschichte), Silke Tiemann (Geschäftsführerin Werksverkauf Wächtersbacher Keramik), Gerd Hausen (anleitender Keramiker, früher Wächtersbacher Keramik, derzeit angestellt bei Könitz Group GmbH), Erich Neidhardt (Vorsitzender des Museums- und Geschichtsverein Brachttal e.V.), Heiner Gunia (Vorstandsmitglied Verein Industriekultur Steingut – Wächtersbacher Keramik e.V.), Klaus Keßler (Privatsammler und Inhaber des „Keramikmuseums Lindenhof“) sowie Bürgermeister Wolfram Zimmer.

Kurzgeschichte

Die von Graf Adolf II. zu Ysenburg-Wächtersbach im Jahr 1832 im Wächtersbacher Schloss gegründete Keramikfabrik (damit eine der ersten deutschen Steingutfabriken überhaupt) produzierte ab 1834 in Schlierbach. Mit der Firmengründung schuf man Arbeitsplätze in der strukturschwachen ländlichen Region, was nach dem Anschluss an die Eisenbahn (Vogelsberger Südbahn) schließlich im großen Stil gelang. In der Hochzeit, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, arbeiteten hier rund 1.000 Menschen.

Zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang der 1930er Jahre gehörte sie, sowohl was den Umfang der Produktion als auch deren gestalterische Qualität angeht, zu den bedeutendsten deutschen Herstellern von Steingut. Ab den 1950er Jahre entwickelt sich die Fabrik sukzessive zum größten Hersteller von Gebrauchskeramik in Deutschland. Der vom Fürstenhaus Ysenburg-Büdingen geführte Firmensitz in Schlierbach bestand, trotz wirtschaftlicher Turbulenzen und Besitzerwechsel, noch bis zur leider endgültigen Insolvenz im Jahr 2011.


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