Zwei Weltreligionen im mentalitätsgeschichtlichen Vergleich

Schlüchtern
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In einer öffentlichen Veranstaltung der Europa-Union, Kreisverband Schlüchtern-Gelnhausen, begrüßte Thomas Otto Schneider, der Vorsitzende, im Gasthaus „Zum Eckebäcker“ rund 25 Zuhörer und Dr. Heinz Gottwald als Referenten. Angekündigt war ein Vortrag, der dem Islam einen „Einblick ins Systemische“ abgewinnen wollte.



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Dabei stützte sich der Germanist und Historiker auf sein Buch „Der lange Schatten der Hidschra“ (Berlin 2018), in dem „Ein theologiegeschichtlicher Vergleich zwischen Islam und Christentum“ von ihm vorgenommen wird. Vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen zielt die Ausgangsfrage der für ein breiteres Publikum geschriebenen Untersuchung auf die Gründe für die relative Rückständigkeit des islamisch geprägten Orients im Vergleich zum christlichen Abendland. Ursprünglich sollte der Buchtitel sogar provokant lauten: „Die Ursünde des Islam“.

Schneider stimmte auf das brisante Thema ein und verwies auf den Essay, den Hans Magnus Enzensberger 2006 über „Schreckens Männer“ als „Versuch über den radikalen Verlierer“ geschrieben hat: Gibt es zwischen dem einsamen Amokläufer und dem islamistischen Gotteskrieger Gemeinsamkeiten? Was treibt die Täter zu ihren Taten? Antworten auf diese aktuellen beunruhigenden Fragen erhoffte sich Schneider auch von dem Referenten.

Gottwald verriet, dass er seinen Ausführungen zunächst den Titel habe geben wollen: „Christliche Wurzeln europäischer Identität“. Den Vergleich zwischen Christentum und Islam nahm er struktur- und mentalitätsgeschichtlich vor und konzentrierte sich dabei auf zwei Fragestellungen: Im ersten Teil ging es ihm um das Verhältnis zwischen weltlicher und geistlicher Obrigkeit, im zweiten um die Prinzipien der Rechtssysteme. Zeitlich und geographisch wurde der Rahmen der Untersuchung eingeschränkt: Im Hinblick auf das Christentum interessierte dessen Entwicklung von der Entstehung bis zur Reformation in den Gebieten der katholischen Kirche, also der Westen Europas, im Hinblick auf den Islam dessen Entwicklung von der Entstehung bis zum Ende des Bagdader Kalifats, also der dort dominante Sunnismus. Welche Mentalität komme in den beiden Weltreligionen und in deren Geschichte zum Ausdruck? Und für welche weiteren Entwicklungen sei diese ursächlich?

In seinem mehr als eine Stunde dauernden Vortrag führte Gottwald aus, indem er viele historische Daten aus beiden Kulturbereichen nannte: Dem Christentum komme in der antiken Anfangszeit eine Oppositionsrolle innerhalb des Judentums im Herrschaftsgebiet des Römischen Reiches zu und könne deshalb als Untergrundreligion charakterisiert werden, die lange auch Verfolgungen ausgesetzt gewesen sei, bis sie unter Theodosius I. und Konstantin dem Großen Staatsreligion geworden sei. Deshalb werde zwischen weltlicher und geistlicher Obrigkeit im Christentum zunächst streng unterschieden. Dies gelange auch noch im mittelalterlichen Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst zum Ausdruck. Lösung der Streitfälle verspreche die Konzilsidee, die sich auf das Apostelkonzil in Jerusalem berufen könne. Gottwald erkannte darin Spuren eines demokratischen offenen Ansatzes. Anders verhalte es sich im Islam: Nachdem Mohammed 622 von Mekka nach Medina ausgewandert oder geflohen sei – mit dieser „Hidschra“ beginne die islamische Zeitrechnung –, gestalte er dort als geistlicher und zugleich als weltlicher Führer das Gemeinwesen. In seiner Nachfolge wirkten die Kalifen in derselben autoritären Doppelfunktion, nämlich in der Einheit von weltlicher und geistlicher Obrigkeit. Wäre Mohammeds Flucht nach Medina nicht erfolgt, wäre er in Mekka geblieben, wo er nur geistlicher Führer gewesen sei, wäre es nach Ansicht Gottwalds zu einer anderen Entwicklung im Islam gekommen, die der Entwicklung des Christentums mehr geähnelt hätte.

Während die Bibel – man denke nicht nur an die Lehre vom vierfachen Schriftsinn in der Exegese, sondern auch an Martin Luthers Übersetzung der „Heiligen Schrift“ ins Deutsche – allen Gläubigen zugänglich gemacht werde, so dass jeder für sich lesen und unter seiner Perspektive verstehen könne, was Gottes Wort sei, werde der Koran von Lehrern und Schülern rezitiert und diese Rezitation in mündlicher Tradition über die Generationen hinweg gepflegt, um Missverständnisse wegen falscher Betonungen in der arabischen Sprache auszuschließen. Es herrsche im Islam auch deshalb die Meinung vor, dass der Koran wortwörtlich zu verstehen sei. Folglich würden Individualismus und Kollektivismus in den beiden Weltreligionen unterschiedlich bewertet, so dass in deren Geltungsbereichen auch unterschiedliche Entwicklungen begünstigt würden.

Am Ende seiner Ausführungen ging Gottwald im Hinblick auf die Prinzipien der Rechtssysteme auf die Stellung der Frau näher ein. Sowohl Christentum als auch Islam bescheinigte er unter Berücksichtigung der historischen Gegebenheiten, dass sie durchaus Fortschritte mit sich gebracht und die soziale Institution „Ehe“ ethisch begründet hätten. Das Christentum propagiere die Konsensehe, formuliere innerhalb der katholischen Kirche als Sakrament die Unauflösbarkeit der Ehe, weil Mann und Frau ein Fleisch seien, und bestehe deshalb auch auf der Monogamie. Mohammed habe die Zahl der Ehefrauen eines Mannes auf vier eingeschränkt und der Frau die Würde eines menschlichen Wesens gegeben, der die damals bislang dem Clan übergebene Braut- bzw. Morgengabe selbst zustehe. Auch habe er die Pflichten des Ehemannes gegenüber der Ehefrau festgelegt: Er habe für ihren Unterhalt zu sorgen, dürfe sie nicht misshandeln und müsse mit ihr den Geschlechtsverkehr ausüben. Durch dreimaliges Aussprechen der Scheidung sei diese gültig vollzogen.

Im Anschluss diskutierten die Teilnehmer der Veranstaltung noch eine halbe Stunde lang verschiedene Aspekte des nicht nur historisch interessanten Themas.

Foto: Dr. Heinz Gottwald (links) und Thomas Otto Schneider. Quelle: Europa-Union


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