Jüdische Erinnerungskultur mit Museum und Veranstaltungen

Die Delegation um Nobelpreisträgerin Erica Frank (kniend) legte zusammen mit Kerstin Baier-Hildebrand, Vorsitzende des Heimat- und Geschichtsvereins (Zweite von links), Bürgermeister Matthias Möller (kniend) sowie Karin Stöcker (Zweite von rechts) und Clas Röhl (rechts) von der Stolperstein-Gruppe weiße Rosen nieder.

Schlüchtern
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Während in der Gaza-Region weiterhin der Hamas-Terror tobt, legt die Stadt Schlüchtern ganz bewusst großen Wert auf ihre Verantwortung gegenüber der Geschichte und pflegt regelmäßig die Erinnerungskultur.

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In der Synagoge soll ein jüdisches Museum entstehen, und eine große Kunstveranstaltung ist für 2025 geplant.

Kerstin Baier-Hildebrand, Vorsitzende des Heimat- und Geschichtsvereins, betont: „Wir wollen hier in Schlüchtern unserer Verpflichtung nachkommen und aufklären, aber auch mahnen, damit so etwas in Deutschland nie wieder passiert.“ Das unterstreicht die Gedenkfeier, die jüngst und jährlich zur Erinnerung an die Gewaltverbrechen gegen die jüdischen Bürgerinnen und Bürger in Schlüchtern stattfand. 

Doch das ist längst nicht alles, was in der Bergwinkelstadt passiert. Bürgermeister Matthias Möller sagt: „Der Dialog ist uns sehr wichtig. Wir müssen in engem Kontakt bleiben und ein neues Miteinander finden.“ Deshalb war Ende September eine Delegation geladen – allesamt Nachfahren von in Schlüchtern vertriebenen oder ermordeten Juden. Ziel des Treffens war es, sich auszutauschen, aber auch gemeinsam Ideen zu entwickeln sowie Stolpersteine für die Vorfahren zu verlegen. In Vollmerz wurde Margot und Rosa Grünfeld gedacht, die beide ermordet wurden. Und in Schlüchtern selbst wurden ebenfalls mit Stolpersteinen die Familien Rosenbaum und Stern geehrt, die entrechtet und deportiert wurden, während ihre Kinder glücklicherweise fliehen konnten. 

Für die Verlegung der Stolpersteine war ein ganzes Team verantwortlich: Inga Hess, Darius Lotz, Clas Röhl und Karin Stöcker vom Heimat- und Geschichtsverein, aber auch die Mitarbeiter des Stadtarchivs sowie des Bauhofs und der Stadtpolizei. Insgesamt liegen in Schlüchtern und den Ortsteilen nun 45 Stolpersteine. Kerstin Baier-Hildebrand blickt in die Zukunft: „Dass wir auch weiterhin Stolpersteine verlegen, ist wichtig für unsere Stadt. Sie bieten eine Gelegenheit, sich im Alltag mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, sich berühren zu lassen – vor allem und gerade durch das individuelle Schicksal, das einen Namen und ein Gesicht bekommt. Sie helfen aber auch, nach vorne zu schauen und achtsam zu bleiben.“

Besonders die Worte von Erica Frank, Friedensnobelpreisträgerin, Ärztin sowie Medizin- und Bildungsforscherin, bleiben nachhaltig im Gedächtnis. Ihre Großmutter Alma Stern wohnte einst in Schlüchtern, floh aber in die USA, wo Erica Frank bis heute lebt. Seit Kurzem hat sie einen deutschen Pass – und möchte sich künftig in der Bildungsarbeit in Schlüchtern intensiv engagieren. Sie sagte bei der Stolpersteinverlegung: „Etliche Dinge haben mich in Schlüchtern beeindruckt, besonders das Engagement aller Verantwortlichen. Sie setzen sich hier dafür ein, dass das kleine Schlüchtern zu einem hellen Leuchtturm der Hoffnung für das Land und darüber hinaus wird.“ Dafür sei sie sehr dankbar. Erica Frank und weitere Nachfahren wollen sich künftig in  Schlüchtern engagieren, zum Beispiel bei der Neuausrichtung der Synagoge, in die ein Museum einziehen soll, das mit Exponaten und Schriftstücken an das jüdische Leben in Schlüchtern erinnert.

Kleiner Rückblick ins Jahr 2017: Die Künstlerin Ulrike Streck-Plath veranstaltete eine kollektive Performance mit lebensgroßen Figuren aus Stahl und Filz in Schlüchtern, die an den Todesmarsch von mehr als 300 Häftlingen aus dem Konzentrationslager Katzbach erinnern sollte. Diese wurden im März 1945 bei kaltem Schneeregen von Frankfurt über Fechenheim, Dörnigheim, durch das Kinzigtal und Schlüchtern bis über Fulda nach Hünfeld getrieben. Mindestens 100 Häftlinge sollen dies nicht überlebt haben, einige der Ermordeten wurden auf dem Ehrenfriedhof in Schlüchtern beigesetzt. Kerstin Baier-Hildebrand erinnert sich: „Dies war ein ganz besonderer Tag. Er war ernsthaft, die Menschen schwiegen, viele trauerten, manche weinten, alle waren tief bewegt.“

Genau eine solche Performance soll im Jahr 2025 wiederholt werden: Dann ist der Todesmarsch 80 Jahre her. Derzeit plant Ina Hartwig, Kulturdezernentin der Stadt Frankfurt, eine große Veranstaltungsreihe entlang der Strecke, und auch diesmal möchte sich die Stadt Schlüchtern wieder daran beteiligen. Schlüchterns Bürgermeister Matthias Möller unterstreicht dies abschließend: „Wir arbeiten weiter ernsthaft daran, dass die Erinnerungskultur ein Bestandteil des Lebens und Alltags in Schlüchtern wird. Es ist enorm wichtig, sich die Vergangenheit vor Augen zu halten, um aus ihr zu lernen. Das wollen wir in Zusammenarbeit mit vielen Ehrenamtlichen sowie natürlich mit den Nachfahren erreichen.“

Die Nobelpreisträgerin Erica Frank betonte, sie wisse dies sehr zu schätzen und freue sich schon auf die Zusammenarbeit in Schlüchtern: „Schlüchtern, eine Stadt, die ich gerne wieder zu meiner Heimat machen möchte.“

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Die Delegation um Nobelpreisträgerin Erica Frank (kniend) legte zusammen mit Kerstin Baier-Hildebrand, Vorsitzende des Heimat- und Geschichtsvereins (Zweite von links), Bürgermeister Matthias Möller (kniend) sowie Karin Stöcker (Zweite von rechts) und Clas Röhl (rechts) von der Stolperstein-Gruppe weiße Rosen nieder.

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Einige Stolpersteine in der Obertorstraße in Schlüchtern.

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Die Synagoge soll ein Ort des Erinnerns werden: Ein Museum soll hier einziehen.

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An den Todesmarsch, der mehr als 300 Häftlinge durch Schlüchtern führte, soll im Jahr 2025 wieder mit einer Performance wie hier im Jahr 2017 erinnert werden.

Alle Fotos: Stadt Schlüchtern


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