Wenn das aufgeschriebene Wort zum Lebensbegleiter wird

Bellings
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Rund 40 Jahre schreibt der bewegte und doch tief in sich ruhende Steinauer Zeitgenosse Hans Melchior Schmidt in Cafes handschriftlich auf, was ihm wertvoll ist - in seinem Leben und darüber hinaus.



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In diesen Tagen füllen seine Worte nicht nur sein 100. „Bewegungsbuch“, wie er es nennt, aus, sondern bereichern einen Geist, der aber auch gar nichts mit dem herrschenden Zeitgeist zu tun hat. Auf seinem Anwesen in Steinau-Bellings im Kreise seiner Ehefrau Elke und seinen Kindern Anna, Max und Moritz wurde für den ehemaligen Gymnasiallehrer, liebevoll von seinen Schülerinnen und Schülern „Öko-Schmidt“ genannt, der Lebenstraum zum Lebensraum und umgekehrt. Aus dieser glücksbesamten Verwurzelung heraus triftet sein kritischer Geist in die Weite und spiegelt Natur und Menschenwerk. Einer seiner Aphorismen symbolisiert sein Denken: „Ein Mensch mit Weitblick muss sein Dorf nicht verlassen“.

Seine 100 Bewegungsbücher, allesamt übereinander gestapelt, in denen er geistesscharf beobachtet und wertet, sind ein Mahnmal gegen die profitorientierte Leistungs- und Konsumgesellschaft, die humanes Leben ebenso verschlingt wie die Vielfalt der Natur. Aber seine Worte beschränken sich nicht auf die Anklage der herrschenden Verhältnisse und Lebensweisen. Sie sind vielmehr immer auf der Suche nach dem einfachen, zeitlosen, freien Glück des Menschen und skizzieren somit einen Weg zu einem sinngebenden Leben. Originalton Schmidt: „Die folgenschwerste Trennung ist die von sich selbst.“ Fast ganz nebenbei hält Schmidt als Kunstmaler seinen Lebenssinn auch in Gemälden fest. Auf mehreren Ausstellungen öffnete er den Betrachtern seiner in Aquarell, Tinte und Öl gezeichneten und gemalten Werke die Augen für seine Liebe zu lebenswerten Landschaften, Lebensräumen.

Natur und Kultur im Blick

In einem Interview antwortet Schmidt auf die Frage „Sie haben fast 40 Jahre lang das Leben und deine Umwelt reflektiert und handschriftlich in deinen Bewegungsbüchern aufgeschrieben, was Sie bewegt hat. Was hat Sie bewegt, Ihre Gedanken aufzuschreiben und damit Zeitgeschichte zu Papier zu bringen?“: „Um diese Frage zu beantworten, zitiere ich den großen Franzosen Montaigne aus dem Vorwort zu seinen ‚Essais‘. Er schreibt: ‚Sei gleich am Anfang gewarnt, dass ich mir kein anderes Ziel als ein rein häusliches und privates gesetzt habe‘. In meinen eigenen Bewegungsbüchern halte ich meine Begegnungen mit der Welt fest, das heißt, die Impressionen, wie sie mir durch Landschaft, Menschen und Gesellschaft, das heißt durch die Natur und die Kultur, eingegeben werden. Ich destilliere daraus meine Wertvorstellungen, Überzeugungen und mein Weltbild.“

Neben seinen ganz persönlichen Bewegungsbüchern hat Schmidt auch rund 1500 Aphorismen in einem Sammelband („Gedanken eines Unzeitgemäßen“) veröffentlicht. Schon beim Durchblättern des kunstvoll gestalteten Werkes, das bei Edition Bodoni in Berlin verlegt wurde, scheinen die auf Papier gebannten Worte ungeduldig auf dem Sprung in die Welt zu sein. Verdichtet zu gesellschaftskritischen, philosophischen, humoristischen auch sarkastischen und satirischen Sätzen streben sie nach außen. Seine Aphorismen wirken einzeln betrachtet frech, schroff und anklagend. Im Ganzen vereint, erschallt jedoch ein unbändiger Schrei nach individueller und kollektiver Freiheit. Schmidts Leitbild ist der „selbstmächtige“ Mensch, der ehrfürchtig die Welt betritt, achtsam beobachtet und verantwortungsvoll handelt.

Liebe und Glück Hauptthemen in Schmidts Werk

Lassen wir Schmidt auf die Frage „Warum sind Liebe und Glück des einzelnen Menschen die Hauptthemen, die sich immer wieder durch ihre Aufzeichnungen ziehen?“ noch einmal selbst zu Wort kommen: „Weil sie die menschliche Seele zum Höchsten führen, zu dessen sie fähig ist. Und weil ich mich diesbezüglich für einen vom Schicksal Begünstigten halte, der bereits unzählige Male Liebe und Glück erfahren durfte.“ Auf die Frage, was für ihn Frieden bedeute, sagte Schmidt: „Er bedeutet für mich Einklang mit der Natur, Heimat, Freiheit des Denkens, altruistisches Handeln, Abwesenheit von Krieg und Gewaltherrschaft sowie Ungerechtigkeit und deren Strukturen und das liebende Durchdringen der Welt, angefangen bei der eigenen Familie, der Freundschaft sowie der Möglichkeit ungestörten, kreativen Tuns.“

Das 100. Jubiläumsbuch soll am 9. Mai würdig gefeiert werden, sofern das die Auswirkungen der Corona-Krise zulassen. Um 15 Uhr treffen sich die Freundinnen und Freunde mit der Familie Schmidt im „Cafe Wohnzimmer“ in der Krämerstraße in Schlüchtern. Ab 17 Uhr findet eine öffentliche Lesung aus seinen Bewegungsbüchern in der Remise des Brüder-Grimm-Museums in Steinau statt. Eine seltene Gelegenheit für ein breites Publikum, in die für die eigenen Kinder gedachten Gedanken des Autors hinein lauschen zu können. Gerundet wird die „literarische Geburtstagsfeier“ mit einer abendlichen Feier unter Freunden auf seinem Anwesen in Steinau-Bellings. Sollten die Jubiläumsfeierlichkeiten zum 100. Bewegungsbuch wegen der Corona-Krise ausfallen, werden sie auf jeden Fall nachgeholt.

Hans Melchior Schmidt wurde am 28. Juli 1951 in Steinau-Bellings geboren. Dort verbrachte er auch seine Kindheit und Jugendzeit. Zwischen 1971 und 1977 studierte er in Marburg Lehramt (Biologie und Geografie). Unmittelbar nach dem Studium war er als Lehrer in Fulda und Schlüchtern tätig, bis vor wenigen Jahren am Grimmelshausen-Gymnasium in Gelnhausen.

Text und Foto: Peter Völker


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