Vom Vergnügen, ein Sachbuch zu lesen

Wächtersbach
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Literaturstammtisch im Kikeriki. Dort bewies der Buchhändler und begeisterte E-Mobilist Stephan Siemon, dass es durchaus vergnüglich sein kann, ein Sachbuch zu lesen.

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Nach der Begrüßung von Fritz Feit stellte er den Titel „Wer kriegt die Kurve?“ von Ferdinand Dudenhöffer mit. Das Buch des Auto-Papstes beschäftigt sich mit der Zeitenwende in der Automobilindustrie. Es diskutiert die Frage, ob eine der wichtigsten Industrien Deutschlands den Übergang in die Zeit der Elektromobilität, in die Zeit des autonomen Fahrens, in die Zeit der Software-Innovationen und der Umstrukturierung und Verschlankung des Händlernetzes schaffen wird – oder ob wir uns rettungslos abhängen lassen von den Chinesen, den Amerikanern und anderen „Global Playern“.

Und um die bisher unbeantwortete Frage auf dem Punkt zu bringen, hat Dudenhöffer im Anschluss an den fachlichen Teil sein Buch mit zwei kurzen Polemiken beschlossen. Die eine ist überschrieben: „Deutschland 2030, Verlierer der Zeitenwende“. Der Autor reist durch Deutschland, er will zur größten Leitmesse der Mobilitätsindustrie, nach Peking. In Deutschland chauffiert ihn ein autonom fahrendes Auto durch ein weitgehend zerfallenes Ruhrgebiet. Immer noch sieht man auf den Straßen unendlich scheinende Staus. In ihnen stehen nach wie vor die Veteranen der Automobilität, Ruß und Abgase ausstoßende Kraftfahrzeuge. Das autonom fahrende Auto umgeht den Stau, es rollt durch verkommende Gewerbegebiete. Vor den einstigen Glaspalästen der Autohäuser wächst meterhoch das Gras, die Scheiben sind vielfach zerschlagen. Niemand mag die Grundstücke haben. Ganz Nordrhein-Westfalen hat es schwer getroffen – im gesamten Bundesland gibt es keinen Autobauer mehr, ganze Landstriche haben sich entvölkert, nachdem auch die Zulieferindustrie zusammengebrochen ist. Der Autor denkt daran zurück, als er vor 50 Jahren das erste Mal in Peking war. Damals amüsierte er sich über Handkarren und Lasten-Mopeds als Transportmittel, die Luft war zum Schneiden, die Menschen trugen Atemmasken. Heute ist Deutschland das Land der Handkarren...

Das durchaus realistisch wirkende Szenario macht melancholisch. Zum Glück hat der Autor ein weiteres geschrieben: „Deutschland 2030, Meister der Zeitenwende“. Dieses trug Andrea Euler vor. Das Szenario: Deutschland hat es geschafft. Der Sumpf aus Steuerprotektion, Abgasskandalen und fataler Innovationsangst wurde entschlossen politisch angegangen und gewonnen. BMW, Daimler und Volkswagen konnten sich erfolgreich behaupten, sie kooperieren bei der Batteriefertigung und bei Software-Lösungen – der Datenkrake Google hat sein Monopol verloren. Neue, interessante Jobs ersetzen die Arbeit am Fließband, Deutschland bleibt Autoland.

Das Buch ist knapp drei Jahre alt. In der folgenden, lebhaften Diskussion wurde klar: Viel hat sich nicht getan. Nach wie vor steckt Deutschland tief im Dieselskandal, eine Lösung ist nicht in Sicht. Populistische Politiker reiten nach wie vor das „tote Pferd“ des Dieselmotors – dabei ist die Sache längst entschieden: Denn beim Autoverkauf spielt die „Musik“ nicht auf dem kleinen, deutschen, überdies gesättigten Markt. Die großen Märkte wie China, die USA, das aufstrebende Indien und die reichen skandinavischen Länder haben sich längst vom Verbrennungsmotor abgewandt. Ein Lichtblick mag allenfalls sein, dass VW-Chef Herbert Diess seinen Konzern rigoros auf die Elektromobilität ausrichtet. Ob er´s noch rechtzeitig schafft: Offene Frage.


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