Altstadtförderverein trauert um Marlies und Klaus-Dietrich Keßler

Foto: Altstadtförderverein/Frank Schäfer

Wächtersbach
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Marlies Keßler ist tot. 1944 in Bochum geboren, verstarb sie in der vergangenen Woche nach schwerer Krankheit.

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Bereits im November 2022 starb ihr Ehemann, der 1925 in Frankfurt geborene Klaus-Dietrich Keßler. Der Altstadtförderverein Wächtersbach trauert mit den Angehörigen und Freunden, gehörte das Ehepaar Keßler doch zu den engagierten aktiven Mitgliedern. Im August 2018 stattete der Altstadtförderverein den Keßlers auf ihrem Lindenhofmuseum einen Besuch statt, und im November 2018 war das sympathische Ehepaar Gast beim „Stammtisch mit Charakterköpfen“. Sie berichteten dabei jeweils von ihrem Traum, den sie sich auf dem ehemaligen Lohrei-Hof in Streitberg erfüllen konnten.

Der Lebensweg Klaus Keßlers begann in Frankfurt, wo er als Kind die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs miterleben musste. Wie andere Frankfurter Kinder wurde er im Vogelsberg in Sicherheit gebracht, „aufs Land verschickt“. Er schilderte später, wie er als Kind vom südlichen Vogelsberg aus seine Heimatstadt brennen sah. Im Bankhaus Bethmann in Frankfurt war er beruflich tätig, später wurde er Gewerkschaftssekretär.  Durch seine berufliche Tätigkeit lernte Klaus Keßler Marlies kennen, die bei der Commerzbank in Bochum arbeitete. Sie zogen zusammen und heirateten später, zunächst lebten sie in der Gemeinde Linsengericht zusammen, bevor sie sich auf dem Lindenhof - den sie wegen der prächtigen Linde im Hof so nannten – ihren Traum verwirklichten. Die beiden verband die Leidenschaft für Waechtersbacher Keramik und Kunst, beide waren in der SPD Brachttal engagiert und wirkten in politischen Gremien der Gemeinde, unter anderem im Gemeindevorstand, der Gemeindevertretung und im Ortsbeirat Streitberg.

Die Verleihung des Kulturpreises des Main-Kinzig-Kreises im November 2022 erlebte Klaus Keßler nicht mehr, da er bereits sterbenskrank war. Der Sonderpreis der Jury für den Kulturpreis des Main-Kinzig-Kreises ging im Jahr  2022 an das Ehepaar Marlies und Klaus Keßler. Begründung: Sie kauften im Jahr 1993 ein 200 Jahre altes Fachwerkhaus mit Scheune in Brachttal-Streitberg in der Nähe der Waechtersbacher Keramikfabrik. Denkmalgerecht restaurierten sie das Anwesen, einen Teil davon, darunter auch ein vorhandenes Silo, eröffneten sie als privates Museum, um einmalige Kollektionen der Waechtersbacher Keramik einem interessierten Publikum zu präsentieren, so die Jury des Kulturpreises. Seit dieser Zeit sei das Lindenhofmuseum ein Ort umfangreicher Keramikausstellungen und damit auch ein Stück Heimatgeschichte. „Marlies und Klaus Keßler haben mit ihrem Lebenswerk, dem Lindenhof Keramik-Museum in Brachttal, einen Leuchtturm im Main-Kinzig-Kreis geschaffen. Ihre Leidenschaft für die Geschichte der Steingutfabrik und ihr Verantwortungsgefühl, das eigene Wissen und die private Sammlung öffentlich zugänglich zu machen, sprechen für ein herausragendes Engagement auch in kultureller Hinsicht“, so die Jury. Die in Jahrzehnten zusammengetragene Sammlung sei in Umfang, Größe und vor allem Qualität ohne Vergleich. Nur im Lindenhof Keramik-Museum seien Einzelstücke zu sehen, die bereits im 19. Jahrhundert international auf den Weltausstellungen in Chicago, St. Louis, Paris und London gezeigt wurden. Die Keßler-Sammlung umfasse einen Querschnitt der Produktion von den Anfängen bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts.

Schwerpunkte sind Keramiken des Historismus, des Jugendstils und des Art déco. Den Jugendstil-Teil der Sammlung dominieren die Keramiken der Kunstabteilung der Waechtersbacher Keramikfabrik. Die Kunstabteilung wurde von 1903 bis 1921 von Christian Neureuther geleitet. Dessen Kontakte zu den Künstlern der Darmstädter Mathildenhöhe führten zu dem in der Fachwelt berühmten, von Sammlern in aller Welt begehrten „Waechtersbacher Jugendstil“, einer singulären Erscheinung im Keramik-Kosmos unserer Welt, so die Selbstbeschreibung des Museums. „Die Keramiken des Art déco und die Produktion im Bauhaus-Stil werden in einem zu einem Museumsraum umgebauten landwirtschaftlichen Silo präsentiert. Ein weiterer Ausstellungsraum ist ein 2010 neu erbautes kleines Fachwerkhaus, das das romantische Ambiente des Lindenhofs auf faszinierende Weise unterstreicht. Thema der Sammlung ist die unglaubliche Produktvielfalt der Waechtersbacher Keramikfabrik über die rund 180 Jahre ihres Bestehens. Mit der Präsentation dieser Sammlung im engen räumlichen Umkreis der Produktionsstätte soll der glanzvollen Keramik-Geschichte der „Fabrik“ ein Denkmal gesetzt werden.“

2013, als das Lindenhof Keramik-Museum sein zehnjähriges Bestehen feierte, sprach Klaus Keßler von einem Traum, der durch einen Zufall begonnen habe: Anfang der 70er Jahre sei er in eine Haushaltsauflösung in Bad Orb geraten. Eine alte Dame war gestorben, ihr Neffe wollte die kleine Wohnung möglichst schnell und möglichst kostengünstig leer geräumt haben. In diesem Haushalt gab es auch Keramiken, und die wurden verschenkt. “Was ich damals mitgenommen habe, identifizierte Wochen später ein Redakteur des Gelnhäuser Tageblattes, Dieter Tigges, als Waechtersbacher Keramik und erzählte mir von der alten Steingutfabrik in Schlierbach, die es immer noch gäbe und die sehenswert sei“, erinnerte sich Klaus Keßler. „Mit meinem damaligen Traum, einem fast neuen Opel-Sportwagen, machte ich im Spätsommer einen Ausflug vom Linsengericht nach Schlierbach zur Fabrik, fragte beim Pförtner der Fabrik nach einer Führung und wurde von einer jungen Frau durch die Fabrik geführt und zum Schluss in einen Raum, der buchstäblich angefüllt war mit hunderten Keramikteilen.  Ich war von den Formen und vor allen von den Farben überwältigt, es war wie ein Rausch. Danach bin ich bei strahlendem Spätsommerwetter unten im Tal spazieren gegangen. Das war die Geburtsstunde meines Traumes „Wächtersbacher Keramik“. Ich begann, Keramiken der Wächtersbacher Steingutfabrik zu sammeln“, so Klaus Keßler.

Viele Jahre später, in den End-80er-Jahren, habe er nach seinem Banker-Job in Frankfurt zehn Jahre als Gewerkschaftssekretär im Ruhrgebiet gearbeitet. Er lernte eine Betriebsrätin der Commerzbank Bochum kennen, „wir verliebten uns, wir fuhren an Wochenenden, Feiertagen und in den Urlauben ins Linsengericht in meinen kleinen Bungalow“, schilderte Klaus Keßler seine erste Begegnung mit Marlies. „Wir suchten nach Waechtersbacher Keramik, fanden reichlich, meine Freundin war fasziniert, und der Traum entwickelte sich weiter. Für die Zeit unseres absehbaren Ruhestandes suchten wir einen kleinen Bauernhof hier in der Gegend, das war der Traum dieser meiner Freundin. Wir suchten sehr lange vergeblich, dann fanden wir eine Hofreite im Vogelsberg, in Brachttal, dem Ort, wo immer noch eine gewisse Steingutfabrik produzierte. 1993 kauften wir und ließen das alte Bauernhaus renovieren. 1995 ging ich in Ruhestand und zog in Streitberg ein“, so Klaus Keßler. „In der Fabrik wurde es inzwischen finanziell enger, sie begann, Teile ihres Keramik-Archivs zu verkaufen und ihr Museum aufzulösen. Wir kauften wunderschöne Stücke, für ziemlich viel Geld."

10 Jahre haben die Keßlers in Streitberg gebaut, nach der Scheune noch das Stallgebäude zu einem Wohnhaus umgebaut, und in der Scheune die Sammlung Waechtersbacher Keramik untergebracht. Diese war kontinuierlich weitergewachsen. Sie hatten inzwischen geheiratet. Sie ordneten ihre Keramik nach der Zeit ihrer Entstehung bzw. Produktion, öffneten ihre Sammlung für Besucher, was ursprünglich nicht so geplant war. „Das ist der Traum, in dem wir leben“, so die Worte Klaus Keßlers. „Unsere Besucher sind ein Teil dieses Traumes, Gruppen, Schulklassen, Familien... Gespräche, unsere Freunde, andere Keramiksammler, Verrückte wie wir.....“

Eine engere Zusammenarbeit der Keramik-Museen in unserer Region wäre für die Keßlers denkbar und möglich gewesen. Das Wächtersbacher Heimatmuseum, das Töpfer-Museum in Wittgenborn, das Brachttaler Gemeinde-Museum in Spielberg, das Lindenhof-Museum, und vielleicht ließe sich auch in der Fabrik wieder ein Museum installieren. Für diesen Zweck wollten die Keßlers ihre umfangreiche Sammlung in eine Stiftung einbringen. 2011 wurde in Schlierbach die Produktion eingestellt, und ein Teil des Fabrik-Areals wurde verkauft.  Am 24. Januar 2013 hat sich ein Förderkreis „Steingut Schlierbach“ gegründet. Viele Waechtersbach-Sammler seien Mitglied geworden. Klaus und Marlies  Keßler gehörten zu den Gründungsmitgliedern, „und unser Traum (da ist er wieder) ist, dass diese wundervolle Fabrik, wenn auch verändert,  noch möglichst viele Jahre weiter lebt. Dort unten in Schlierbach gilt es immer noch, ein reiches kulturelles Erbe zu erhalten“, so Klaus Keßler. Doch dieser Traum hat sich zerschlagen, auch der von den Keßlers mitgegründete Verein „Industriekultur Steingut“ hat unlängst seine Auflösung beschlossen. 

Der Altstadtförderverein Wächtersbach wird Klaus und Marlies Keßler stets ein ehrendes Andenken bewahren und wünscht sich, dass es noch viele Träumer dieser Sorte geben möge.

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Fotos: Altstadtförderverein/Frank Schäfer


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